Politische Auseinandersetzung Wie viel Streit verträgt die Demokratie?

DÜSSELDORF · Diskussionsrunde beim Parlamentsgespräch im NRW-Landtag. Es geht um die Gründe für den Aufstieg der AfD, um die zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft.

29. August 2020: Der politische Streit erreicht eine neue Dimension, wenn auch nicht so weitgehend wie einige Monate später beim Sturm auf das Kapitol in Washington. Teilnehmer einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen stehen auf den Stufen zum Reichstagsgebäude, Reichsflaggen sind zu sehen.

Foto: dpa/Achille Abboud

In Parlamenten, so auch im nordrhein-westfälischen Landtag, wird täglich gestritten. Das gehört zur Demokratie. Aber wie viel Streit verträgt unsere Demokratie? Als eben dieses Thema am Abend im umgebauten Restaurant des Landtags besprochen wird, da sitzt nur ein Politiker in der Diskussionsrunde. 90 Jahre alt ist er inzwischen, Gerhart Baum. Der FDP-Mann vom einstmals starken bürgerrechtlichen Flügel der Partei, der in der sozialliberalen Koalition von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister war, ist als Politiker und auch als Rechtsanwalt keinem Streit aus dem Weg gegangen. Und als ihm die Moderatorin Vivien Leue das erste Wort gibt, da kachelt er auch sofort streitlustig los:

„Wir haben eine Situation, die ich so noch nicht erlebt habe. Die Ballung von Krisen weltweit. Und dann haben wir in unserem Land eine ernstzunehmende Attacke auf unsere Demokratie. Von Nord bis Süd eine Partei, wachsend, die außerhalb des Konsenses des Grundgesetzes steht.“ Und schnell ist er bei der AfD, um die es an diesem Abend immer wieder geht. Aber eben nicht nur darum. Die Partei absorbiert schließlich die Unzufriedenheit vieler Menschen, profitiert von der Polarisierung.

„Jeder sucht sich im Netz seine eigene Öffentlichkeit“

Baum klingt zornig. „Damals, zu Zeiten von Wehner und Strauß, flogen auch die Fetzen, aber uns verband doch die Bindung an diese Demokratie.“ Er frage sich, wie ein vernünftiger Mensch, „um seinen Protest loszuwerden, eine Neonazi-Partei wählen kann“. Das seien doch „Demokratieverächter“. Dann kommt er aufs dahinter stehende Thema, das den Aufstieg der AfD begünstige: Eines der großen Probleme in der heutigen Streitkultur sei, dass es keine gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit mehr gebe. „Jeder sucht sich im Netz seine eigene Öffentlichkeit.“ Die auf die gesamte Gesellschaft bezogene Verständigungsdebatte nehme immer weiter ab. „Bei vielen in dieser Gesellschaft ist das Gemeinsame nicht mehr da.“

Auf dem Podium im NRW-Landtag (von links): Moderatorin Vivien Leue, Gerhart Baum, Christiane Woopen, Helene Bubrowski, Frank Decker und Marie-Luisa Frick.

Foto: Peter Kurz

Die FAZ-Journalistin und Autorin Helene Bubrowski beschreibt das Phänomen der Spaltung in mehrere Öffentlichkeiten anhand einer Situation, die wohl viele kennen. „Da sitze ich mit 20 Leuten zusammen, alle scheinen sich einig zu sein. Man stimmt sich gegenseitig zu.“ Doch dieses Harmoniebedürfnis stehe dann im krassen Gegensatz zu Angriffen, denen sich jeder schnell in sozialen Medien ausgesetzt sehen kann. „Woher kommt eigentlich dieser Hass?“, fragt sie.

Marie-Luisa Frick, Philosophie-Professorin aus Innsbruck, die ein Buch über „zivilisiertes Streiten“ geschrieben hat, hat diese Erklärung: „Viele haben bei kontroversen Debatten das Gefühl, dass sie nicht angenommen werden als legitimer Gesprächspartner. Es kommt zu Kränkungen, Ressentiments, verhärteten Fronten. Es kommt zur Verachtung der Andersdenkenden.“ Die Radikalisierung der AfD komme nicht aus dem Nichts, sie sei auch eine Reaktion auf einen unbeholfenen hysterischen Umgang mit dem Erstarken der Partei.

Politikwissenschaftler Frank Decker von der Uni Bonn erklärt, wie es politisch zu der sich immer weiter verschärfenden Polarisierung gekommen sei. In anderen europäischen Ländern seien populistische Parteien mit in die Regierung eingebunden worden. Deutschland mit seiner Geschichte könne sich es nicht erlauben, Rechtspopulisten an der Regierung zu beteiligen. Und so hätten die anderen Parteien ihren Streit „im demokratischen Zentrum“ eher zivilisiert und entschärft. Gleichzeitig sei es zu einer stärkeren Polarisierung zwischen diesem „demokratischen Zentrum“ und der AfD gekommen.

Christiane Woopen war bis 2016 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und danach Vorsitzende des Europäischen Ethikrats. Gremien, in denen die ganz großen Streithemen abgewogen werden. Vor allem: die Positionen werden ausführlich begründet. Das hat Woopen geprägt. Ihr reicht es nicht, nur zu sagen, die AfD vertrete verfassungswidrige Positionen. Man müsse den Menschen, die die Partei wählen wollen, klar machen, was es für Konsequenzen hätte, wenn diese ihr Grundsatzprogramm durchsetzen könnte, also: „Was würde denn passieren, wenn nur noch deutsche Leitkultur gilt, wenn Multikulturalismus ausgeschlossen wird, wenn man sich pauschal gegen den Islam ausspricht, wenn man ganz pauschal die klassische Familie in den Vordergrund stellt, wenn man Homosexualität und Geschlechtsidentität nicht akzeptiert, wenn man den Klimawandel einfach leugnet?“, fragt sie.

Bubrowski, die den Berliner Parlamentsbetrieb als Journalistin aus der Nähe verfolgt, kritisiert, dass die Politiker dem Konkurrenten von rechts oftmals nur moralische Empörung entgegenhalten - und dann: Ende der Debatte. Das führe nur zu weiteren Abwehrreflexen auf der anderen Seite. Der ehemalige NRW-Ministerpräsidnet und jetzige CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Laschet habe sich kürzlich wohltuend davon abgehoben. Als er aufgezeigt habe: Das will die AfD, und das ist unserer Antwort darauf. Bubrowski: „Das ist natürlich viel anstrengender als zu sagen, dass etwas nicht geht.“

„Zivilisierter Streit
ist etwas Gutes“

Aber der Streit darf ohnehin nicht nur den Politikern überlassen werden. Es gibt keinen Widerspruch in der Runde, als Ethik-Professorin Christane Woopen fordert: „Schon in der Schule, schon in der Kita müssen die Regeln eines guten Streits kennengelernt werden. Zivilisierter Streit ist etwas Gutes, er ist die Voraussetzung von Frieden, man muss in der Vielfalt zusammenleben.“ Streit müsse überall stattfinden, am Abendbrottisch, im Verein. Aber man müsse sich an Regeln halten, dürfe den anderen nicht degradieren. Man solle sich an Sachargumenten orientieren, zuhören, sehen, was man lernen kann. Jedenfalls versuchen, einander zu verstehen. „Und bitte keine ,cancel culture“, die Menschen nicht ausschließen, weil sie eine nicht genehme Meinung haben.“ Gerade dann solle man sich der Diskussion mit ihnen stellen.