Thilo Sarrazin und die Grenze der Erkenntnis

Der frühere Bundesbankvorstand und SPD-Politiker reiste zum Klassentreffen nach Wuppertal. Eine Begegnung.

Foto: Andreas Fischer

Wuppertal. Böse Zungen könnten behaupten, dass der Rahmen zum Gast passt. Das Café in Wuppertal-Elberfeld atmet den diskreten Charme der 60er Jahre. Es ist beliebt bei allen, die auf modernen Firlefanz wie Popmusik aus dem Hintergrund und WLAN gut verzichten können. Wie geschaffen für Menschen, die die Dinge am liebsten so belassen, wie sie sind oder sie noch lieber hätten, wie sie einmal waren. Der Gesprächspartner heißt Thilo Sarrazin und hat vor sechs Jahren begonnen, die Gesellschaft aus den Angeln zu heben; unbeabsichtigt, vermutlich. Gesellschaft interessiert Sarrazin anscheinend nicht sonderlich. Aber gesagt ist gesagt. Und seither nehmen die Dinge ihren Lauf.

Damals war Sarrazin Bundesbankvorstand, hat im Interview mit einer kaum bekannten Literatur-Zeitschrift im Zusammenhang mit den Türken und Arabern in Berlin von der Produktion von „Kopftuchmädchen“ gesprochen, vom Befruchten des Obsthandels. „Kopftuchmädchen muss ja nicht negativ sein. Das hängt von den Umständen ab“, sagt Sarrazin heute. Respekt sei von Verhalten abhängig. Wer die Verhaltensregeln macht, wer sie interpretiert, das sagt er nicht. Sarrazin ist zu Besuch in Wuppertal. Klassentreffen. Die Mitschüler von einst sind weit verteilt. Jedes Jahr wird in einer anderen Stadt in Erinnerung geschwelgt. Diesmal treffen sich die Schulkameraden in Wuppertal.

Für Journalisten hat er dennoch ein Stündchen Zeit, sogar ein bisschen mehr. Sein aktuelles Buch „Wunschdenken“ will beworben werden, und natürlich der Autor selbst, dem es auch um seine Reputation geht. Der Sozialdemokrat mit Parteibuch ist in die Schmuddelecke geraten. Rechte und ganz Rechte berufen sich auf Sarrazins Aussagen. Aus „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“ ist „Jetzt reden wir“ geworden. Die Thesen des ehemaligen Finanzsenators von Berlin, des ehemaligen Bundesbank- und Bahnvorstandes, werden von den Bachmanns und den Petrys, den Gaulands und den Storchs übernommen. Wahrscheinlich weiß Sarrazin, dass er geholfen hat, den Korken aus der Flasche zu ziehen, in welcher der Ungeist über Jahre gefangen war. Er weiß wahrscheinlich, dass sein wissenschaftlich angestrichenes Gerede von intelligenten und weniger intelligenten Bevölkerungsgruppen, von „Kopftuchmädchen“ und türkischen Obsthändlern, von „Deutschland schafft sich ab“ geistige Streichhölzer in einem Land liefert, in dem vielerorts wieder Flüchtlingsheime brennen.

Er lehnt es ab, den Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen versteckt Sarrazin sich hinter weltweiten Entwicklungen. Populistische Bewegungen gebe es in vielen Gesellschaften, in den USA, in Nord- und Osteuropa. „Es wäre ja ein Wunder, wenn ausgerechnet das Land mitten in Europa davon unerreicht geblieben wäre“, sagt er.

Sarrazin ist ein politischer Mensch. Sein Berufsleben hat er weitgehend im öffentlichen Dienst verbracht. Die Arbeit in der Friedrich-Ebert-Stiftung Anfang der 1970er Jahre und der Eintritt in die Partei Willy Brandts ebneten ihm den Weg in Spitzenpositionen der öffentlichen Verwaltung. Seine Arbeit war allerdings nicht immer ungetrübt von Kritik und Rechtsstreitigkeiten. Die Karriere des 1945 in Gera geborenen und in Recklinghausen aufgewachsenen Volkswirtes war vielleicht bemerkenswert, glänzend war sie nicht. Dafür entwickelte sie zu viele Nebengeräusche. Weder zum Abschied aus dem Bahnvorstand noch nach dem Abschied aus dem Vorstand der Bundesbank gab es politische Blumensträuße. In der Welt der Wirtschaft, in der Politik und erst recht in seiner Partei, der SPD, ist Sarrazin weitestgehend isoliert.

Was anfangs Stolz gewesen sein mag, ist bei Sarrazin in gekränkte Eitelkeit umgeschlagen. Jeder Mensch braucht ab und an Applaus. Zur Not aus der Schmuddelecke. Also empfahl Sarrazin Hartz-IV-Empfängern dicke Pullover, um im Winter Heizkosten zu sparen, regte eine Debatte über die intellektuelle Qualität als Voraussetzung für Elternschaft an, machte Ausflüge in die Genwissenschaft — inhaltlich widerlegt, immer kritisiert vom politischen und wissenschaftlichen Establishment, immer häufiger bejubelt von der „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Fraktion.

Im Café besteht Sarrazins verspätetes Frühstück aus einem Kännchen Kaffee und einem trockenen Croissant. Er ist gerade erst mit dem Auto aus Berlin gekommen. Der Kellner erkennt seinen prominenten Gast nicht, serviert höflich, freundlich, routiniert. Sarrazin nimmt nicht wahr, dass er unüberhörbar einen Migrationshintergrund hat. Der Kaffee schmeckt, das Croissant auch, der Mann arbeitet was, alles, wie es sein muss. Alles in Ordnung.

Grundsätzlich hält Sarrazin Distanz zur Welt. Aus der größten Völkerwanderung der Menschheitsgeschichte, die in den 1970er-Jahren ihren Anfang genommen hat, leitet der Sozialdemokrat nicht die Aufgabe ab, Fluchtursachen zu bekämpfen, schon gar nicht persönlich. „Entwicklungshilfe ist gescheitert“, sagt er stattdessen. Und: „Überall, wo sich der Westen eingemischt hat, ist es nicht besser, sondern eher schlimmer geworden. Die Probleme des Tschad können nur die Menschen im Tschad lösen.“ Punkt. Damit ist für ihn auch die Zuwanderungsfrage beantwortet: Wenn der Westen die Probleme nicht in der Fremde lösen kann, dann darf er sie erst recht nicht ins Haus holen.

Als sei das im wirklichen Leben möglich und nicht bloß auf dem Papier, unterscheidet Sarrazin zwischen Wanderung von Menschen, die begrenzt werden müsse, und Wanderung von Ideen, die grenzenlos sein könne. Mithin müssten ein Einwanderungsgesetz her und Grenzen, sagt er: „Es ist eine absolut geschichtsvergessene Idee zu glauben, man könne bei der Sicherung der eigenen Grenzen darauf verzichten, sich die Hände schmutzig zu machen“, sagt Sarrazin. Wer dann gegebenenfalls auf Flüchtlinge schießen soll, sagt Sarrazin nicht. Aber: „Das ist kein Thema, das uns noch einmal verlässt.“

Es gibt Leute, die sagen, Thilo Sarrazin sei böse. Das sagt der von sich selbst auch. Aber nur im Zusammenhang mit seinem Parteigenossen Heinz Buschkowsky, dem langjährigen Bürgermeister des Berliner Stadtbezirks Neukölln. Buschkowsky hatte seinerzeit auch auf die dramatischen Folgen gescheiterter Integrationsbemühungen hingewiesen, sich Beschimpfungen und Beleidigungen aber enthalten. Sarrazin war da anders. „Er war der Gute, ich der Böse. Aber ohne mich wäre er bundesweit anders wahrgenommen worden“, sagt Sarrazin.

Das ist frei erfunden, aber es macht die Methode Sarrazins deutlich. Er ist ein Provokateur, der es versteht, aus gezielten Tabubrüchen Kapital zu schlagen. Und er ist trotz der Millionenauflagen seiner Bücher ein Gescheiterter, der sich mit recht freien Interpretationen von Statistiken eine Welt bastelt, wie er sie sehen will. Die Aufnahmetests der Bundeswehr beweisen ihm, dass alle Menschen in Mecklenburg-Vorpommern dümmer sind als die in Baden-Württemberg. Dabei weiß er selbstverständlich, dass die am besten ausgebildeten jungen Leute Mecklenburg-Vorpommern längst verlassen haben. Aber er sagt es nicht.

In Sarrazins eigener Welt sind Protestanten intelligenter als Katholiken, weil in protestantischen Pfarrhäusern früher die intelligentesten Kinder Pfarrer wurden und Elite damit erhalten blieb. Sarrazins Welt ist überschaubar, einfach, unterscheidet zwischen Gut und Böse, zwischen wertlos und wertvoll, und verschließt sich vor allem jenseits des Tellerrandes. Diese Welt ist klein und eng, sie ist spießig und deshalb reizvoll für alle, die das Ungewisse, Neue, Herausfordernde fürchten. Sie ist wie geschaffen für die Enttäuschten in Pirna und Pforzheim, die sich von der Zukunft abgehängt und von den etablierten Parteien vergessen fühlen. Sie spricht intellektuelle Konservative an, die sich schwertun mit dem gesellschaftlichen Wandel, die multikulturell mit fremd, anders und bedrohlich gleichsetzen, die sich einfach nicht wohlfühlen in einer Gemeinschaft, in der nicht alle von Hause aus dieselbe Sprache sprechen.

Dass gerade Thilo Sarrazin nicht zu den Politikern gehört, die irgendwann einmal für die Schwachen und Benachteiligten gekämpft hätten, ficht die Enttäuschten nicht an. Und auch die Intellektuellen erwarten von Sarrazin offenbar nichts als Provokation. Der kämpft für niemanden, außer für sich selbst. Er leitet aus seinen Interpretationen von Zahlenkolonnen nichts ab, was ihn selbst zum Handeln bewegen könnte. Kein politisches Amt, keine Parteiarbeit, nichts. Nichts, was ihn bewertbar macht. Stattdessen schreibt er Bücher, die nicht aufwecken, sondern aufwiegeln. Das ist wenig für einen Menschen, der von sich behauptet, doch nur die Wahrheit zu sagen.

In dem Café nimmt keiner der wenigen Gäste Notiz von dem Mann, der eine Zeit lang in keiner TV-Talkshow fehlen durfte. Im Kännchen ist noch dampfender Kaffee. Das Croissant hat den großen Hunger gestillt. Draußen füllt sich der Platz langsam mit Einkaufsbummlern. Drinnen ist es ruhig, sehr ruhig. Gemütlich-biedere Gesprächsatmosphäre, die Raum gewordene Entschleunigung der Zeit. Ein plüschiger Platz zum Innehalten, zum Nachdenken.

Die Frage des Journalisten, ob die westliche Zivilisation es wirklich aushalten darf und kann, beim Morden, Verhungern und Verdursten auf allen Kontinenten zuzuschauen, stellt sich für Sarrazin nicht. „Wir dürfen uns den Blick auf die Welt nicht von Bildern diktieren lassen“, sagt er. Den Begriff Lügenpresse vermeidet Sarrazin. Und: „Ich bin kein Christ mehr. Ich glaube an die Grenzen meiner eigenen Erkenntnisfähigkeit.“ Verglichen mit den Grenzen dieser Erkenntnisfähigkeit wirkt das so sympathisch gestrige Café wie ein Stück weite Welt.