Vielvölkerstaat Libyen vor dem Neuanfang

140 Stämme und Clans prägen das zerbrechliche Land. Sie zu einen, wird eine Herausforderung.

Tripolis. Kaum ein Staat in Nordafrika ist so fragil wie Libyen. Zwar leben hier nur rund 6,5 Millionen Menschen, sie verteilen sich jedoch auf rund 140 Stämme und Clans. Diese sind für die Libyer entscheidend. Es galt als eine große Leistung Gaddafis, dass er es schaffte, die Einheit Libyens zu bewahren. Dabei ging er jedoch mit größter Brutalität gegen einzelne Stämme vor. Bald steht eine neue libysche Regierung vor der Aufgabe, einen Vielvölkerstaat ohne Gewalt zu führen. Es wird eine Herkulesaufgabe, wie ein Blick in die Geschichte andeutet.

Mit der Besiedlung weiter Teile Nordafrikas durch die Araber im siebten und achten Jahrhundert wurden die bis dahin im heutigen Libyen ansässigen Berber und Tuareg ins Landesinnere verdrängt. Die arabischen Stämme breiteten sich in der recht fruchtbaren Küstenregion aus, während die Ureinwohner in die Bergregionen und die Ränder der Sahara, die den größten Teil Libyens prägt, ausweichen mussten. Die Stämme und Clans gewannen zur Zeit der italienischen Kolonialherrschaft (1921 — 1943) noch an Bedeutung, da sie am ehesten Schutz vor den Übergriffen der Italiener gewährten.

Heute sind rund 90 Prozent der Libyer arabischer Abstammung. Sie stehen den Minderheiten der Berber, Tuareg und Tebu gegenüber.

Auch innerhalb dieser Ethnien gibt es große Rivalitäten. „Gaddafi hat seine Herrschaft auf einzelnen Clans aufgebaut und mit der Clan-Struktur gespielt“, erklärt Ulrich Delius, Afrika-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Jetzt wird sich diese Struktur neu finden müssen. Dabei spielt Öl eine große Rolle.“

Unter dem von den Briten eingesetzten König Idris I. (regierte von 1951 bis 1969) wurde das Erdöl-Geschäft zur entscheidenden wirtschaftlichen Triebfeder in Libyen. Nach seinem Putsch 1969 nutzte Gaddafi die Öl-Reichtümer, um sich die Loyalität der wichtigsten Clans zu erkaufen. Er versuchte zudem, ein libysches Nationalbewusstsein zu schaffen, unter anderem durch große Infrastruktur-Projekte, die die Regionen besser miteinander verbanden.

Die Bevorzugung einzelner Clans bei gleichzeitiger brutaler Unterdrückung anderer verstärkte aber auch die Gegensätze. Das Problem ist offenkundig: Es gibt Clans, die auf Rache an Gaddafis Unterstützern sinnen könnten. Und es gibt andere, die viele Pfründe zu verlieren haben.