Vor 25 Jahren: Die Rückkehr des hässlichen Deutschen
Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren waren der vorläufige Höhepunkt einer Welle von rassistischen Gewalttaten gegen Ausländer, die mit der Wende 1990 einsetzte. Bei dem Pogrom gegen Asylbewerber vor dem Sonnenblumenhaus kapitulierte der Rechtsstaat vor dem Pöbel.
Rostock. Um 21.40 Uhr setzt der Ausländerbeauftragte der Stadt, Wolfgang Richter, einen Notruf ab: „Passen Sie auf, ich erkläre es Ihnen ganz in Ruhe: Mecklenburger Allee 19. Das Wohnheim der Vietnamesen. Dort sind 115 Menschen drin. 115 Vietnamesen. Die Polizei hat sich zurückgezogen. Die Chaoten haben unten das Haus angesteckt. Die Gase kommen schon hoch, und sie kämpfen sich Stockwerk für Stockwerk hoch. Hier muss sofort, sofort Feuerwehr her und ganz viel Polizei!“
Aber es kommt niemand. Die Feuerwehr kommt nicht durch. Der zum Mord bereite Mob, der sich in der dritten Nacht in Folge um das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen versammelt, lässt sie nicht vorbei. Es dauert fast anderthalb Stunden, bis neue Polizeikräfte anrücken und die Angreifer zurückdrängen. Bis dahin fliegen immer neue Brandsätze auf das Haus, das nun in Flammen steht. Wolfgang Richter, die Vietnamesen und ein ZDF-Kamerateam entkommen den Mordbrennern über das Dach.
Am Rande des Mobs, der sich an diesem 24. August 1992 zum Ausländer-Pogrom versammelt hat, befindet sich auch Harald Ewert, 38 Jahre alt, ledig, seit zwei Jahren arbeitslos. In seiner Einzimmerwohnung im benachbarten Stadtteil Reutershagen sieht er die Live-Bilder von dem brennenden Haus im Fernsehen. Ewert fährt mit dem Auto hin. Sein Bild, das der Fotograf Martin Langer für den „Spiegel“ aufnimmt, geht nach dieser Nacht um die Welt: Den Arm zum Hitlergruß erhoben, offenkundig stark alkoholisiert und glasigen Blicks, steht Ewert dort barfuß in Sandalen, im 1990-er Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und mit grauer, eingenässter Jogginghose. Ewert, das ist der personifizierte hässliche Deutsche, der aus Deutschlands dunkelster Geschichte zurückkehrt.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 wird Ewert immer wieder behaupten, sich nicht eingenässt zu haben, sondern auf der Fahrt zum Ort des Pogroms ein Bier über seine Hose gekippt zu haben — als ob das das Problem wäre. Und natürlich sei er auch kein Nazi. Auf die Frage, warum er den Hitlergruß gezeigt habe, antwortet er 1993 zwei „Stern“-Reportern: „Das ging ganz automatisch.“
Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren waren der vorläufige Höhepunkt einer Welle von rassistischen Gewalttaten gegen Ausländer, die mit der Wende 1990 einsetzte, im September 1991 im sächsischen Hoyerswerda unübersehbar wurde und schließlich im fünffachen Mord des Solinger Brandanschlags 1993 mündete. In diesen Jahren radikalisierten sich in Jena die späteren Mörder des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds.
„Ich war 18, hatte gerade das Abitur gemacht, wollte studieren, als ich die schlimmen Nachrichten aus Rostock hörte“, so Mecklenburg-Vorpommerns neue Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) in dieser Woche bei einer Gedenkveranstaltung. Ihre damaligen Eindrücke: „Aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger, die die zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge angriffen, die immer wütender wurden, immer aggressiver. Angestachelt von Beifall klatschenden Schaulustigen, von Rechtsgesinnten aus ganz Deutschland, und begünstigt durch überforderte Verantwortliche. Brandsätze, Feuer, eingeschlossene Menschen — eine fast unwirkliche Szenerie.“
Das Phänomen der regelrechten Zusammenrottung rassistischen Pöbels und gemeinschaftlicher Gewalttaten gegen Ausländer erfasste zunächst vor allem die neuen Bundesländern. „Die Medien waren schon längere Zeit praktisch auf der Suche nach einem Motiv für diesen Begriff des Zuschauers, der bei solchen Ereignissen jubelt. Das wurde schon ein paar Mal beobachtet, aber keiner konnte es zeigen. Und dieses Bild hat es gezeigt, fast schon überhöht und übertrieben. Und deswegen ist das auch so wichtig geworden. Es hat eine Lücke gefüllt“, sagte Martin Langer über sein Foto von Harald Ewert.
Klatschten 1991 in Hoyerswerda rund 300 Anwohner Beifall zu den Angriffen mehrerer Dutzend Neonazis mit Steinen und Molotow-Cocktails gegen frühere DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambik, standen in Rostock-Lichtenhagen nun rund 3000 schaulustige Unterstützer vor dem Sonnenblumenhaus; es wurden im Umfeld Imbiss- und Getränkestände aufgebaut, um Angreifer und Schaulustige mit Alkohol zu versorgen. Ewert brachte sich sein Bier mit. In der Dose, 89 Pfennig der halbe Liter.
Die fünftägigen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen hatten ein monate-, wenn nicht jahrelanges Vorspiel. In dem elfgeschossigen Plattenbau an der Mecklenburger Allee hatte das Land Mecklenburg-Vorpommern seine Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) eingerichtet — die einzige des ganzen Bundeslandes. In dem von der ZAst genutzten Gebäudeteil gab es lediglich Betten für 250 bis 300 Asylbewerber. Weil die Aufnahmestelle mit dem Andrang nicht fertig wurde, kampierten über Monate bis zu 300 Asylbewerber, meist rumänische Roma, in den Grünanlagen rund um das Haus. Die Stadt Rostock verweigerte die Aufstellung von Toiletten, weil sie angeblich die Zustände nicht legalisieren wollte.
Schon ein Jahr vor den Pogromen beschrieb ein Vertreter des UN-Flüchtlingswerks die Zustände dort als unhaltbar. Der Oberbürgermeister warnte den Landesinnenminister: „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen.“ Eine längst geplante Verlegung der ZAst zum Juni 1992 in eine frühere DDR-Kaserne in einem Waldgebiet wurde immer wieder verschoben. Wenige Tage vor dem Pogrom gab es ganz konkrete Ankündigungen von Aktionen und Aufmärschen, darunter von der NPD.
Am 22. August 1992, einem Samstag, versammelten sich gegen 20 Uhr fast 2000 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus, 200 von ihnen begannen, das Gebäude mit Steinen zu bewerfen. Am 23. August beginnt die Gewalt am Mittag, diesmal sind bekannte westdeutsche Neonazis dabei. Bis 20 Uhr steigt die Zahl der Gewalttäter auf 500, aber der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer (CDU), löst erst um 22.30 Uhr landesweiten Alarm aus. In der Nacht stoppen Hamburger Polizisten und Bundesbeamte die Exzesse.
Der 24. August wird schließlich zum Tag der Schande. Wie im „ausländerfreien“ Hoyerswerda kapituliert der Rechtsstaat: Die rumänischen Sinti und Roma werden aus der ZAst evakuiert. Der rechte Pöbel hat gewonnen. Er feiert seinen Sieg mit einem neuen, noch brutaleren Brand- und Gewaltexzess gegen frühere DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam, die einen Block weiter im Sonnenblumenhaus wohnen. Zwei weitere Tage dauern die Exzesse in Lichtenhagen an.
An den „Vorfällen in Lichtenhagen vor 25 Jahren gibt es nichts zu leugnen oder zu beschönigen“, so Ministerpräsidentin Schwesig in dieser Woche. Am 24. August 1992 forderte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), nun müsse der Staat handeln — aber nicht etwa gegen Nazis: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Als der damalige Zentralratsvorsitzende der Juden im November 1992 das Sonnenblumenhaus besuchte, flegelte ein CDU-Kommunalpolitiker den deutschen Juden Ignatz Bubis an: „Ihre Heimat ist Israel.“
Aufgrund des Fotos gehörte Ewert zu den Wenigen, gegen die nach dem Pogrom überhaupt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Von rund 400 Ermittlungsverfahren führten nur 50 zu einer Verurteilung; lediglich vier Neonazis wurden zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt. 1993 bekam Harald Ewert einen Strafbefehl über 300 Mark wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Da Ewert die Strafe nicht bezahlte, saß er 30 Tage in Ersatzhaft.
Die letzten Verfahren wurden fast zehn Jahre später geführt. Wolfgang Richter, der frühere Ausländerbeauftragte Rostock, begleitete viele der Prozesse und sagte immer wieder den gleichen verbitterten Satz, der seine Lehre aus dem Pogrom war: „Wenn die Deutschen die Wahl haben zwischen Unrecht und Unordnung — so entscheiden sie sich für das Unrecht.“