So wird 2017 Warum sich mit Angst vor Abstieg und Migration Wahlen gewinnen lassen
In den westlichen Demokratien gibt es einen Rechtsruck, weil viele die Marktwirtschaft als ungerecht und die Zuwanderung als Bedrohung empfinden. Die Politik wirkt ratlos. Das macht die Populisten stark.
Düsseldorf. Am Morgen danach war das Entsetzen groß. Die Briten hatten es wirklich getan, sie hatten der EU den Rücken gekehrt: Brexit — allen Prognosen und Kommentaren in den klassischen Medien zum Trotz. Der 23. Juni, der Tag einer historischen Scheidung.
„Ich bin schockiert, wütend und traurig“, kommentierte der Brite Sir Tony Cragg das Ergebnis im Gespräch mit unserer Zeitung. Der international renommierte Bildhauer lebt seit 1977 in Wuppertal und hatte vehement für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU geworben. „Die Brexit-Befürworter sind Scheinpatrioten. Sie versprechen Dinge, die sie nicht halten können“, sagte Cragg. „Nationalismus ist keine Lösung.“
Am 8. November wiederholte sich das Desaster für alle, die ganz sicher waren, das Ergebnis schon vorher zu kennen. Donald Trump wurde zum nächsten Präsidenten der USA gewählt. Die Hetze gegen Muslime und Latinos, seine Ausfälle gegen Frauen und das Verbreiten von Lügen hatten ihm nicht geschadet.
Das Brexit-Referendum und der Sieg Trumps sind die sichtbarsten Zeichen eines politischen Stimmungswandels in den westlichen Demokratien. Es geht um einen Rechtsruck, der sich 2017 bei wichtigen Urnengängen fortsetzen dürfte. In den Niederlanden liegt die Freiheitspartei von Geert Wilders in den Umfragen vorne.
In Frankreich stehen die Chancen von Marine Le Pen vom Front National gut, Präsidentin zu werden. Und bei der Bundestagswahl im Herbst könnte die Alternative für Deutschland (AfD) unter Führung von Frauke Petry mit einem zweistelligen Ergebnis als drittstärkste Kraft ins Parlament in Berlin einziehen.
Wer nach den Ursachen dieser Entwicklung fragt, kommt an zwei Dingen nicht vorbei: Zum einen hat die Einkommensungleichheit seit der Finanzkrise 2008 in allen westlichen Demokratien deutlich zugenommen. Der Lebensstandard stagniert für die meisten Arbeiter und die Mittelschicht, während es für Besserverdiener rasch wieder in die Höhe ging. Der zweite Grund ist, dass die Feindseligkeit gegenüber Ausländern drastisch gestiegen ist.
Eine fundierte Analyse dazu liefert die Bertelsmann-Stiftung, die der Frage nachgeht, warum rechtspopulistische Parteien in Europa so großen Erfolg haben. Demnach spielt die Angst vor der Globalisierung eine entscheidende Rolle. Viele Menschen fragen sich, was sie davon haben, wenn der Handel mit anderen Ländern bestens funktioniert.
Für Deutschland heißt das: Was nutzt das Wachstum der Wirtschaft, wenn jeder fünfte Arbeitsplatz im Niedriglohnsektor liegt? Die soziale Marktwirtschaft verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie zwar mit Steuer-Milliarden Banken rettet, aber keine Konzepte gegen Altersarmut vorlegt. Wer hierzulande 45 Jahre arbeitet und dabei den Mindestlohn verdient, bekommt eine Rente, die unterhalb der Grundsicherung liegt. Menschen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet haben, müssen den Staat also um Hilfe bitten. Von vielen wird das als ungerecht wahrgenommen.
Das Vertrauen in den sozialen Aufstieg, dass es den Kindern einmal besser als den Eltern geht, ist weg. Stattdessen grassiert die Angst vor dem Abstieg, die Angst, nicht einmal das Erreichte halten zu können. Immer weniger Menschen bekommen unbefristete Arbeitsverträge mit Tarifbindung und Kündigungsschutz. Hartz IV mit seinen kürzeren Bezugszeiten für Arbeitslosengeld hat das Tempo des sozialen Abstiegs beschleunigt.
Zugleich wächst die Wut auf jene, die darüber nicht nachdenken müssen. Zumal die Akteure in den Führungsetagen für Fehler nicht bestraft werden. Nach der Finanzkrise wurde kein Verantwortlicher vor Gericht gestellt. Obwohl Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet wurden, mussten die Finanzjongleure nicht persönlich büßen. Beim Abgas-Skandal vom VW läuft es bisher nach dem gleichen Muster: Die Kunden werden zwar betrogen, aber keinem Manager droht eine Haftstrafe. Hinzu kommt, dass die Autofahrer in Deutschland zweitklassig behandelt werden, denn eine Entschädigung wie in den USA gibt es für die Betroffenen hierzulande nicht.
Zutreffend weist der Historiker Ralf Melzer darauf hin, dass Rechtspopulisten solche Ereignisse für ihre Zwecke nutzen. „Sie konstruieren einen Gegensatz zwischen dem einfachen Volk und den bösen Eliten“, so Melzer. Pauschal würden „die da oben“ für alle Probleme verantwortlich gemacht. Sie selbst stellen sich als Alternative zu dem „verkrusteten“ Parteiensystem oder zur „Lügenpresse“ dar.
Um in den Medien und sozialen Netzwerken präsent zu bleiben, arbeiten die Rechtspopulisten mit gezielten Tabubrüchen. Der Niederländer Geert Wilders twitterte einen Tag nach dem Anschlag in Berlin das Bild einer blutverschmierten Kanzlerin Angela Merkel. Die Botschaft: Sie ist verantwortlich. Marcus Pretzell, Chef der AfD in NRW, twitterte am Abend des Anschlags um 21.15 Uhr: „Es sind Merkels Tote.“ Ziel dieser Provokationen ist es, empörte Reaktionen hervorzurufen, die die Solidarisierung der eigenen Anhängerschaft stärken.
Jenseits solcher taktischen Spielchen gibt es reichlich Gründe, die Verlust- und Abstiegsängste vieler Menschen ernst zu nehmen. Es reicht nicht aus, nur den Dialog mit den Anhängern von Frauke Petry, Marine Le Pen oder Geert Wilders zu suchen. Es reicht nicht aus, nur zu erläutern, dass die Globalisierung eigentlich den Wohlstand aller erhöht. Die politischen Eliten in Europa werden die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit neu beantworten müssen.
Und sie müssen glaubwürdig mit dem Thema Flüchtlinge umgehen, so schwer das auch ist. Viele Bürger fürchten, dass Migranten ihnen die Wohnung oder den Arbeitsplatz wegnehmen könnten. Sie fürchten, dass mit den Asylbewerbern die Kriminalität im Land zunimmt, dass Terroranschläge wahrscheinlicher werden. So unbegründet diese Ängste fast immer auch sind, sie sind da und fordern uns alle heraus. Wir müssen darüber reden, in den Medien, am Arbeitsplatz, in den Vereinen, mit der Nachbarschaft.
Faktisch hat die Regierung ihre Flüchtlingspolitik bereits grundlegend verändert. Aus Merkels „Wir schaffen das“ ist längst ein „Wir kontrollieren das“ geworden. Zuwanderung findet nur noch gesteuert statt. Allerdings schafft es die Kanzlerin nicht, diese Botschaft glaubhaft zu vermitteln. Stattdessen führen die Unionsparteien einen unsinnigen Streit um die Obergrenze und stärken der AfD damit den Rücken.
Und was haben Le Pen, Wilders und Petry inhaltlich zu bieten? Grenzen dicht und Ausländer raus statt Globalisierung — emotional mag das viele überzeugen, programmatisch ist es eine Sackgasse. Das wissen die Rechtspopulisten selbst und halten sich mit konkreten Aussagen zu eigenen Plänen zurück. Sie vertrauen darauf, dass die etablierte Politik die Wut vieler Menschen weiter ignoriert. Das könnte reichen, um im nächsten Jahr mit den Stimmen jener, die sich als Verlierer fühlen, Wahlen zu gewinnen.