Schule Was Frankreich bei der frühkindlichen Bildung anders als NRW macht
Präsident Macron will eine Vorschulpflicht für Kinder ab drei Jahren einführen — in NRW ist das Modell hingegen seit Jahren abgeschafft. Ein Vergleich zweier Betreuungskonzepte.
Düsseldorf/Paris. Wenn es um Fragen einer gemeinsamen Europapolitik geht, ziehen der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) häufig an einem Strang. Bei den Konzepten zur frühkindlichen Bildung driften die Vorstellungen in Frankreich und Deutschland hingegen weit auseinander. Denn während Macron in der „Grande Nation“ gerade mit seinem Vorstoß für Furore sorgt, eine Vorschulpflicht für Kinder ab drei Jahren einzuführen, ringen in Deutschland immer noch Eltern mit dem Problem, auch nur ihren gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz durchzusetzen.
Dabei verwundert es aus deutscher Perspektive ein wenig, dass Macron französische Familien verpflichten will, Kinder ab drei Jahren in die Vorschule zu schicken, denn schon jetzt besuchen rund 95 Prozent der Kleinkinder in Frakreich die „École maternelle“ — eine Bildungseinrichtung, in der Kinder im Unterschied zum deutschen Kindergarten schulische Strukturen spielerisch lernen.
Marc-Alexander Schreiweis vom Institut Français in Düsseldorf ist vom Konzept der französischen Vorschule überzeugt.
Ein Ansatz, den Marc-Alexander Schreiweis durchaus für sinnvoll hält. Der Attaché für Sprache und Bildung am Institut Français in Düsseldorf ist Vater von zwei Söhnen, die in Paris beide die Vorschule besucht haben. Rückblickend sagt er: „Ich würde mich jederzeit wieder dafür entscheiden, Die École maternelle hat das Ziel, dass die Kinder unabhängig werden und sich an schulische Strukturen gewöhnen. Die Kinder sind stolz darauf und haben schon früh das Gefühl, zu den Großen zu gehören.“ Über Leistungsdruck, wie er von deutscher Seite oft als Argument gegen die Vorschule angeführt wird, hätten seine beiden Jungs nie geklagt. Auch die oft beschworene Gefahr, dass Kinder durch die frühe Betreuung in einer staatlichen Einrichtung von ihren Eltern entfremdet werden könnten, sieht Schreiweis nicht.
Überhaupt gebe es in Frankreich eine grundunterschiedliche Einstellung zu Betreuungsformen außerhalb der Familie, als es in Deutschland der Fall ist. Schreiweis führt dies nicht zuletzt auf ein anderes Frauenbild zurück: „In Frankreich ist es ganz normal und durchaus verbreitet, dass die Frauen sich auch unmittelbar nach der Geburt eines Kindes wieder auf ihre beruflichen Ziele konzentrieren. Den Vorwurf, eine Rabenmutter zu sein, muss sich bei uns keine Frau gefallen lassen, wenn sie ohne eine längere berufliche Auszeit nach einer Schwangerschaft wieder arbeiten geht.“ Dies bestätigen die staatlichen Anreize: So ist die französische Vorschule kostenlos und ganztägig, während deutsche Kindergärten gebührenpflichtig sind und oft nur ein knapp bemessenes Zeitfenster für die Betreuung am Tag vorhalten. Die frühkindliche Bildung lässt Frankreich sich etwas kosten.
Mit der Vorschulpflicht wolle Macron genau jene fünf Prozent der Familien erreichen, die ihr Kind nicht staatlich betreuen lassen, ist Schreiweis überzeugt: „Die École maternelle leistet einen großen Beitrag zur Integration. Gerade die Großstädte wie Paris sind ein Schmelztiegel der Kulturen. In der Vorschule kommen die Kinder dann ganz selbstverständlich mit Kindern anderer Kulturen und Religionen in Berührung. In Frankreich sagen wir: ,On apprend à devenir élève’.“ Will heißen: „Man lernt, ein Schüler zu werden.“
Der Idee, dass der französische Weg auch ein Modell für Deutschland sein könnte, erteilte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) für Nordrhein-Westfalen eine Absage: „ Wir müssen Kindern genügend Zeit geben, sich zu entwickeln“, sagte sie gegenüber dem WDR. Auch Kitas hätten einen Bildungsanspruch — Erzieherinnen würden täglich ein altersgerechtes Angebot sicherstellen. Auch einer Kindergartenpflicht steht die liberale Politikerin kritisch gegenüber: Zwar gebe es Eltern, die ihren Erziehungspflichten nicht nachkommen würden. Es dürfe nichts unversucht bleiben, diese zu erreichen und entsprechend zu unterstützen.
Beim Verband Bildung und Erziehung (VBE) fühlte man sich angesichts Macrons Vorstoßes stark an ein Modell erinnert, das die Fachgewerkschaft in ähnlicher Form bereits 2002 vorgestellt hatte. „Damals haben wir uns für eine Starterklasse für Kinder ab fünf Jahren ausgesprochen, um den Übergang von der Kita in die Grundschule flexibler und reibungsloser zu gestalten. Leider ist dieses Modell von der Politik abgelehnt worden“, erinnert sich Frank Behlau, Landesvorsitzender des VBE NRW. Bereits 2004 hat man sich in Nordrhein-Westfalen von der Vorschule vollständig verabschiedet, was Behlau aus heutiger Sicht bedauert: „Die Idee einer institutionalisierten Vorschule wäre durchaus eine Überlegung wert.“
Ob nun Vorschule oder Kita — dass eine umfassende Betreuung mit qualifiziert geschultem Personal im Bereich der frühkindlichen Bildung an der finanziellen Ausstattung des Landes scheitert, hält Behalu für eine Schutzbehauptung der Politik: „Das ist alles eine Frage der Prioritäten.“
Der bekannte Erziehungswissenschaftler und Neurobiologe Gerald Hüther steht einer frühen Betreuung außerhalb des Elternhauses derweil kritisch gegenüber: „Kinder, die früh in einer Krippe betreut werden, lernen zwar, sich anderen anzupassen, bilden aber auch kein echtes Selbstbewusstsein aus. Daraus entstehen dann aalglatte Persönlichkeiten, die später kaum aufbegehren.“
Anders ist es aus Hüthers Sicht, wenn Kinder bei mindestens einer erwachsenen Bezugsperson aufwachsen , die dem Kind das Gefühl gebe, „es in seiner Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit zu sehen“. Kinder, die Raum haben, sich auszuprobieren und eigene Erfahrungen zu machen, werden oft charakterstarke Erwachsene. Das funktioniert aber nur, wenn das Kind wirklich ein Gestalter seines eigenen Lernprozesses sein darf. Leider machen Eltern heute oft den Helicopter.“
Ob frühe Fremdbetreuung in Kita oder Vorschule Kleinkindern schadet, oder ihnen im Gegenteil wertvolle Anreize bietet, darüber streiten die Experten seit Jahren. Vielleicht könnte die Erkenntnis die Lager versöhnen, dass es den einen Königsweg wohl nicht gibt und die Betreuung individuell eine Frage des richtigen Bauchgefühls der Eltern ist — in Deutschland wie in Frankreich.