Grundschulgutachten Wird die verbindliche Schulempfehlung in NRW wieder eingeführt?
Freier Elternwille oder verbindliche Vorgabe durch die Schule — ein alter Disput um das Grundschulgutachten lebt neu auf.
Düsseldorf. Soll es dabei bleiben, dass in NRW allein die Eltern darüber entscheiden, ob ihr Kind aufs Gymnasium kommt? Wer den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien CDU und FDP aufmerksam gelesen hat, konnte schon ahnen, dass das Thema Grundschulgutachten und Gymnasialempfehlung irgendwann auf die Tagesordnung kommen würde. Dort heißt es: „Wir wollen bei der Aufnahme der Schülerinnen und Schüler die Entscheidungsmöglichkeiten der Schulen aufgrund ihres Bildungsauftrags stärken.“
Ermutigt davon hatten Schulleiter in den vergangenen Wochen die Schulministerin Yvonne Gebauer darauf angesprochen. Sie seien angesichts hoher Abbrecherzahlen an Gymnasien mit der derzeitigen Regelung nicht zufrieden. Die FDP-Politikerin signalisierte, dass man über das Thema nachdenken müsse. Das solle geschehen im Rahmen der Überlegungen über den Masterplan Grundschule. Bei diesem Masterplan geht es um Themen wie die Erhöhung der Stellenzahlen oder den Rechtschreibunterricht.
Bis zum Jahr 2006 meldeten Eltern ihr Kind frei an einer Schule der von ihnen gewählten Schulform an. Nach einer Gesetzesänderung vom Sommer 2006 — damals regierten CDU und FDP — war es zwar weiterhin so, dass Eltern grundsätzlich die weiterführende Schule ihres Kindes wählen konnten. Jedoch sollte der freie Elternwille zurücktreten, wenn die Eignung eines Kindes „für die gewählte Schulform offensichtlich ausgeschlossen“ war. Wollten Eltern ihr Kind an der Schule einer Schulform anmelden, für die es nur eine eingeschränkte Grundschulempfehlung erhalten hatte, wurden sie zum Beratungsgespräch an der gewünschten weiterführenden Schule eingeladen. Wollten sie ihr Kind danach an einer Schule anmelden, für die es nach der Grundschulempfehlung nicht geeignet war, entschied die Teilnahme des Kindes an einem dreitägigen Prognoseunterricht über die Zulassung.
Im April 2011 wurde unter Rot-Grün die freie Elternentscheidung über die Wahl der Schulform wieder eingeführt. Sie können sich seither über die (weiterhin von der Grundschule abgegebene) Schulempfehlung hinwegsetzen.
Die Zahl der Abbrecher am Gymnasium nach der sechsten Klasse war während der schwarz-gelben Regierungszeit von einem Höchststand von 3360 auf knapp 2190 im Jahr 2011 gesunken. Von diesem Wert aus stieg sie bis zum Jahr 2016 wieder auf jährlich 2770. Auch wenn dies eine Steigerung von 27 Prozent bedeutet, so heißt das nicht, dass damit Dämme brechen. Insgesamt liegt die Zahl der Gymnasialabbrecher in der 6. Klasse in NRW bei gut vier Prozent. Inwiefern die Wiedereinführung der freien Elternentscheidung kausal für den Anstieg der Abbrecherzahlen ist, ist nicht nachgewiesen. Mögliche Ursache könnte auch die Verkürzung der Gymnasialzeit sein.
Die Schülerorganisation „Schüler-Union“ spricht sich allerdings vehement für eine Reform aus. „Die rot-grüne Landesregierung hat mit der damaligen Entscheidung, die verbindliche Empfehlung abzuschaffen, die komplette Schullandschaft sowie die Ausbildung diskreditiert“, sagt Monika Czyz, Landesvorsitzende der Schüler Union NRW. Nach dem Abschaffen der verbindlichen Grundschulgutachten sei die Zahl der Abbrecher auf den Gymnasien eklatant gestiegen. Die damalige Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) habe mit der Entscheidung 2011 den „politischen Druck des rot-grünen Idealismus auf die Eltern abgewälzt“. Die Folgen dessen seien nun Fachkräftemangel im Handwerk, massenhafte Schließungen bei den anderen Schulformen und ein langfristiges Abwerten des Abiturs.
Die Gewerkschaft GEW sieht das anders. Die verbindliche Empfehlung der Grundschulen beim Übergang in die weiterführende Schule sei aus guten Gründen abgeschafft worden. Diese guten Gründe hätten sich nicht verändert, sehr wohl aber habe sich die Situation an Grundschulen verschärft, wie Rixa Borns von der GEW aufzählt: Es herrsche großer Lehrkräftemangel, Ganztagsplätze stünden nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung, Fördermaßnahmen müssten gestrichen werden, Grundschullehrer arbeiteten am Limit. Wer solle da noch Gutachten schreiben?
Borns verweist darauf, dass es bei zehnjährigen Kindern keine eindeutige Diagnose für deren zukünftige Schullaufbahn geben. „Wir kennen die aktuellen Leistungen, nicht aber die zukünftigen. Welchen Einfluss die Pubertät, Änderungen in der Familie oder dem sozialem Umfeld, neue Freunde, Lehrkräfte, Klassen oder Anforderungen auf die zukünftige Schullaufbahn haben werden, das können weder Grundschullehrkräfte noch die Eltern verlässlich wissen. Die Eltern sind aber die einzigen Personen, die das Kind in beiden Schulstufen begleiten.“
Auch der Grünen-Landesvorsitzende Felix Banaszak warnt vor einer Rückkehr zu verbindlichen Schulempfehlungen: „Stress und Leistungsdruck in den dritten und vierten Klassen würden noch größer.“