Zurück bleiben die Menschen in Kundus
Was erwarten eine Lehrerin, ein Unternehmer, ein Bauer und ein Vize-Gouverneur nach dem Abzug der Bundeswehr?
Kundus. Zuletzt schickten die Taliban Schamim Sial vor zwei Wochen eine Drohung — per SMS. „Warte ab, was wir Dir antun werden“, schrieben sie der Direktorin der Fatima-Tushara-Mädchenschule in der nordafghanischen Stadt Kundus. Sial zeigt sich unbeeindruckt. „Ich kann meinen Job nicht deswegen aufgeben.“ Natürlich sei jeder besorgt über die Sicherheitslage — erst recht, wenn die Bundeswehr aus Kundus abzieht.
Sial hat sich geschminkt und schick angezogen, am Montag wird der Tag des Lehrers in Afghanistan gefeiert. Die Eltern haben den Kindern Essen mitgegeben, Brathühnchen und Kebabs, Salate und Teigtaschen. 8000 Mädchen besuchen die Schule in Kundus-Stadt, die früher eine Taliban-Militärbasis war. Dass heute Millionen Mädchen zur Schule gehen, gehört zu den größten Erfolgen des Engagements am Hindukusch.
Doch auch nach zehn Jahren Bundeswehr-Einsatz in Kundus sind die Taliban noch in der Lage, dort Terror zu verbreiten. Zur Sicherheitslage gehen die Einschätzungen trotzdem weit auseinander. Er sei „zu 100 Prozent sicher“, dass die afghanischen Sicherheitskräfte auch ohne die Hilfe der Bundeswehr bestehen könnten, sagt der Vize-Gouverneur der Provinz, Hamdullah Ganeschi. Vorsichtshalber ist er trotzdem von seinem nahe gelegenen Haus auf das Gelände seines Amtssitzes gezogen — aus Angst vor Attentaten.
Abdul Samad besitzt eine Fliesen-Fabrik in Kundus-Stadt und Ackerland im Distrikt Imam Sahib. Das Geschäft mit den Fliesen laufe miserabel, weil die Menschen aus Angst vor der Zukunft keine Häuser mehr bauten, sagt Samad. In Imam Sahib würden Taliban und illegale Milizen immer mächtiger, die alle Steuern von Bauern und Landbesitzern eintrieben, sagt Samad. „Bauern verkaufen ihre Ernte für Waffen, um sich schützen zu können.“ „Ich habe Angst um mein Leben. Ich habe beschlossen, alles zu verkaufen und mit meiner Familie nach Pakistan oder in den Iran auszuwandern.“
Bauer Sajed Mohammad hat kein Geld für eine Flucht. Seine einzige Kuh hat er bereits verkauft, trotzdem weiß er nicht, wie er seine sieben Kinder durchbringen soll. In einem Unterstand schläft seine zweijährige Tochter mit dem Gesicht auf dem Boden. Auf einem der Felder, das der 35-Jährige vor den Toren von Kundus bewirtschaftet, erntet er Baumwolle. Das andere liegt wegen Wassermangels brach. Milizionäre zweigten das Wasser ab, klagt Mohammad. „Wenn wir uns beschweren, verprügeln sie uns.“ Die Regierung helfe nur denen, die ohnehin schon Geld hätten. Der Bauer glaubt, dass sich die Sicherheitslage in Kundus nach dem Abzug der Deutschen verschlechtern und Afghanistan nach 2014 in einen Bürgerkrieg schlittern wird.