Aus Buchstaben werden Worte: Hilfe für Analphabeten
Hamburg (dpa/tmn) - Lesen kann doch jedes Kind? Von wegen. Millionen Menschen verlassen die Schule als Analphabeten und haben damit kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dabei bieten Kurse eine zweite Chance.
Lesen und schreiben hat Uwe Boldt in der Schule nie richtig gelernt. 40 Jahre lang hat der Hamburger sein Leben trotzdem irgendwie gemeistert. Doch dann wurde sein Job im Hamburger Hafen komplizierter: Boldt musste die Schiffe nicht mehr nur beladen, sondern sollte bei Gefahrguttransporten auch den Papierkram machen. „Da war mir klar: So geht es nicht mehr weiter“, erzählt der 52-Jährige heute. Aber die Hemmschwelle, sich als Erwachsener für einen Lese- und Schreibkurs anzumelden, ist unglaublich hoch. Dabei ist die Erfolgsbilanz der Kurse gar nicht schlecht.
Boldt ist alles andere als ein Einzelschicksal. Nach einer Studie der Universität Hamburg können 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland so schlecht lesen und schreiben, dass sie als funktionale Analphabeten gelten. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung. Viele sind arbeitslos, kaum integriert und schotten sich ab. „Früher konnte man auch mit geringer Lese- und Schreibkompetenz durchaus seinen Platz in der Arbeitswelt finden. Aber das wurde dann immer schwieriger“, sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung in Münster.
Noch größer sei die Gruppe derjenigen, die zwar lesen und schreiben können - aber allenfalls auf Grundschulniveau. „Diese Menschen können vielleicht eine Boulevard-Zeitung lesen. Sie drücken sich aber so weit wie möglich darum, irgendetwas schreiben zu müssen“, sagt Ute Koopmann, Vorsitzende des Arbeitskreises Grundbildung beim Deutschen Volkshochschul-Verband. So würden sie etwa eine Beförderung ablehnen und sich mit einem einfachen Beruf zufriedengeben.
Meist sei es eine Kombination aus niedriger Lernfähigkeit und fehlender Förderung in der Schule, durch die Menschen nicht richtig lesen und schreiben lernen, sagt Hubertus. So wie bei Uwe Boldt. Obwohl er mit den Wörtern an der Tafel oder in den Schulbüchern kaum etwas anfangen konnte, blieb er nicht ein einziges Mal sitzen. „In Klassenarbeiten hatte ich immer eine Sechs, aber mündlich habe ich einiges wieder rausgerissen.“
Boldt hatte trotzdem noch Glück. Er fand einen Job im Hamburger Hafen, bei dem er Schiffe be- und entladen musste. Viele Jahre lang kam er klar. Doch dann kam die Zeit, als es eben nicht mehr reichte, Container auf Schiffe zu verladen und er Papiere ausfüllen sollte.
Bei den meisten Betroffenen gebe es irgendein einschneidendes Ereignis, nach dem sie sich für einen Lese- und Schreibkurs anmelden, sagt Hubertus. Etwa die Trennung vom Lebenspartner, der bislang alles Schriftliche erledigt hat. „Die Hürde, in einen Kurs zu gehen, ist extrem hoch. Schließlich verbinden die meisten mit dem Lesen und Schreiben nur negative Erinnerungen.“
Die Kurse sind klein, damit eine individuelle Betreuung möglich ist. Meist wird außerdem nach Niveau unterschieden. Totale Analphabeten hätten oft schon Probleme, überhaupt eine Beziehung zwischen dem gehörten und dem geschriebenen Wort herzustellen, sagt Hubertus.
Uwe Boldt kämpft jetzt seit neun Jahren mit allen möglichen Fallstricken. Zweimal pro Woche geht er in einen Volkshochschulkurs. „Es wird langsam was. Das Schreiben geht eher noch kleckerweise. Aber lesen klappt schon so gut, dass man durchs Leben kommen kann. Es geht halt nicht schnell.“