Auf einmal radikal - Beratungsteam hilft
Berlin (dpa) - Es sind meist die Mütter, die irgendwann zum Telefon greifen, weil sie weder ein noch aus wissen. Wenn Jugendliche sich radikalisieren, hat das unmittelbare Auswirkungen auf ihre Umgebung.
„Die meisten Eltern sind am Ende ihrer Kräfte“, sagt Ahmad Mansour. Der 39-jährige Psychologe arbeitet bei der Berliner Beratungsstelle „ Hayat“ (zu Deutsch: Leben) und kennt die Nöte von Vätern und Müttern, deren Kinder auf einmal ihr Heil in salafistischen oder anderen islamistischen Ideologien suchen. Die „Generation Allah“, wie Mansour sie in seinem jüngst erschienen Buch nennt, stammt nicht selten aus schwierigen Verhältnissen.
„Die Jugendlichen sind auf der Suche nach einer starken Vaterfigur“, hat Mansour festgestellt. Die scheinbar klaren Regeln, die ihnen religiöse Ideologien böten, wirkten da auf viele sehr attraktiv.
Zu Beginn der - meist telefonischen - Beratungsarbeit fragen die „Hayat“-Mitarbeiter eine Art Checkliste ab. So wollen sie von den Eltern wissen, in welche Moscheen die Kinder gehen, welchen Gruppen sie sich angeschlossen haben, welche Internetseiten sie besuchen, wie sie sich verhalten und ob sie andere Kleidung tragen.
Allein dass ein junger Mensch zum Islam konvertiert, ist kein Anzeichen für eine Radikalisierung. „Es ist nicht meine Aufgabe, einer Mutter zu helfen, dass ihr Kind wieder Christ wird“, sagt Mansour.
Die menschlichen Widersprüche haben den Palästinenser Ahmad Mansour bereits früh fasziniert. Mit 18 Jahren nahm er ein Psychologie-Studium an der Universität von Tel Aviv auf - „weil ich die Menschen verstehen wollte“.
Im Grunde gilt das bis heute, denn die Klientel mit der die „Hayat“-Mitarbeiter es zu tun haben, handelt für Außenstehende zumeist nur schwer nachvollziehbar, nicht zuletzt für die eigenen Eltern. Wenn die ihren Weg zu einer Beratungsstelle finden, ist bereits ein Prozess der Entfremdung im Gange, den es zu durchbrechen gilt. Eine langwierige Arbeit, die nicht selten über Monate dauert.
Bevor ratsuchende Angehörige bei „Hayat“ landen, haben sie sich nicht selten zuvor an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg gewandt. Das BAMF verfügt über eine Beratungsstelle Radikalisierung und kooperiert darüber hinaus mit weiteren verschiedenen Einrichtungen bundesweit, an die es Ratsuchende weitervermittelt.
Allein das BAMF berichtet von mehr als 750 Beratungsfällen seit der Schaltung einer Hotline 2012. Derzeit gingen zwischen drei und fünf neuen Fällen pro Woche beim BAMF ein, teilt eine Sprecherin auf dpa-Anfrage mit. Erfahrungsgemäß kämen die meisten Anrufe aus Nordrhein-Westfalen, Hessen, Berlin, Bremen und Hamburg.
„Hayat“ wurde im Jahr 2011 gegründet, basierend auf den Erfahrungen der Deradikalisierungs- und Ausstiegsinitiative für hochradikalisierte Neonazis, EXIT-Deutschland. Seitdem hat die Berliner Einrichtung rund 170 Fälle betreut.
Geleitet wird die Beratungsstelle in Friedrichshain von der früheren Journalistin Claudia Dantschke, die im Frühjahr sogar ins Weiße Haus eingeladen wurde, um über ihre Erfahrungen im Kampf gegen Radikalisierung zu sprechen. Mittlerweile hat sich in Kanada auf private Initiative hin ein Ableger der Beratungsstelle gegründet, der inhaltlich von Hayat Deutschland unterstützt wurde.
Zwar beteuere die Politik gerne, wie wichtig Prävention ist, damit sich nicht noch mehr junge Menschen aus Deutschland ausländischen Terror-Organisationen wie dem „Islamischen Staat“ anschließen. Bei „Hayat“ arbeiteten er und seine Kollegen aber am Rande ihrer Belastbarkeit, sagt Mansour, der außerdem als Programmdirektor für die European Foundation for Democracy in Brüssel tätig ist.
Weil der Strom ausreisewilliger Deutscher nicht abreist, würden bei „Hayat“ Überstunden in großem Stil geleistet. Dabei rufen keineswegs nur Eltern an, deren Kinder in Richtung Islamischer Staat reisen wollen. Auch andere Formen der Radikalisierung beschäftigen die Experten.
Bereits vor langer Zeit hätten sie deshalb dem Bundesinnenministerium signalisiert, dass die hohe Arbeitslast nicht mehr lange so bewältigt werden könne, berichtet Mansour. Zwar folgte im Sommer eine Einladung zum Gespräch im Innenministerium, doch geändert habe sich wenig Es müssten langfristige Konzepte her. Wenn die Politik das Problem ernsthaft angehen wolle, „müssen wir mehr Geld investieren, als wir in die Rettung von Banken investiert haben“, sagt Mansour.
Eine flächendeckende Präventionsarbeit sei dringend nötig, wenn eine Gesellschaft einen bereits begonnenen Radikalisierungsprozess noch umkehren oder gar verhindern wolle, sagt der Autor des Buches „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“.