Einschlaf-Ritual und mehr - Vorlesen macht Familien stärker
Berlin (dpa) - Vorlesezeit ist für Kita- und Grundschulkinder nicht nur wegen der schönen Geschichten spannend. Oft geht es um viel mehr - doch längst nicht alle Eltern wissen und nutzen das.
„Es war einmal...“ ist alles andere als ein alter Hut. Wenn Mütter oder Väter ihren Kindern Märchen und andere Geschichten vorlesen, geht es um weit mehr als ein Einschlaf-Ritual. Das belegt die jüngste repräsentative Vorlesestudie der Stiftung Lesen, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Sie zeigt, wie der Zusammenhalt einer Familie durch Vorlesen wachsen kann. Denn durch eine Geschichte in Kuschel-Atmosphäre können Gespräche entstehen, die Eltern viel über ihr Kind verraten - von Wünschen bis Ängsten. Und viele Kinder genießen die ungestörte Nähe von Mama oder Papa fast so sehr wie die Gute-Nacht-Geschichte selbst.
Umzüge, Trennungen, Tod der Großeltern, wachsender Alltagsstress, Kita, Schule und neue Medien: Eine Kindheit in Deutschland kann ganz schön anstrengend sein. Vorlesen heißt da oft: Innehalten und den Luxus ungeteilter Aufmerksamkeit genießen - oft bei Kindern und Eltern gleichermaßen, heißt es in der Studie. Doch nur etwa zwei Drittel der Familien in Deutschland gönnen sich diese regelmäßige Auszeit. Ein Fünftel der Eltern lesen Kindern zwischen zwei und acht Jahren selten vor, elf Prozent verzichten trotz vieler Appelle ganz. Das sei aus vielen Gründen schade, sagen Experten.
„Es geht ja nicht allein um die Entwicklung von Sprachvermögen, einen größeren Wortschatz oder Ausdrucksvermögen“, sagt Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Kinder erführen durch Geschichten auch Dinge, die über ihre eigene Erlebniswelt hinausgingen. Das erweitere den Horizont, fördere Fantasie und Empathie. Belegt sei, dass Kinder mit Vorlese-Erfahrung ganz unabhängig vom Bildungsniveau ihrer Eltern später bessere Schulnoten bekämen - und das nicht nur in Deutsch.
Für die neue Studie wollten die Forscher aber auch wissen, was Vorlesen für die Kommunikation und Bindung zwischen Eltern und Kindern bedeutet. Herausgekommen ist vor allen eines: mehr als gedacht. Denn in vielen Familien geht es nicht allein um die Geschichten. Sie sind oft der Anknüpfungspunkt dafür, über den Alltag zu reden, über das Miteinander, Regeln, Werte, Ärger, Freude oder über den Ausflug am Wochenende. „Beim Vorlesen können wir häufig auch Themen ansprechen, für die in unserem Alltag kein Platz ist“, hat mehr als die Hälfte der Eltern in der Umfrage geantwortet. Manchmal greifen sie auch bewusst zum Buch, um ein Thema anzugehen. Tod und Trauer, zum Beispiel. Sehr beliebt: „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren.
Und wer liest vor? „Vor allem Erwachsene, die selbst viel und gerne lesen und dies als Genuss auch Kindern vermitteln wollen“, sagt Petra Wieler, Professorin für Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin. Es müssen nicht allein die Eltern oder Großeltern sein, in Berlin gibt es zum Beispiel auch Lesepaten an Schulen.
Wieler ist viel in Grundschulen im Berliner Multikulti-Stadtteil Kreuzberg unterwegs. Dort hat sie beobachtet, wie sehr gerade auch mehrsprachige Kinder vom Umgang mit Bilderbüchern profitieren: Sie erkennen die Strukturen von Geschichten leichter, sie können sie besser nacherzählen, auch schriftlich formulieren und zugleich fantasievoll ausgestalten. Kinder mit Vorlese-Erfahrung könnten sich auch die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion leichter erschließen, berichtet die Forscherin.
Auch Wieler betont, wie wichtig das Gespräch beim Vorlesen ist. „Das fängt schon beim Frage-Antwort-Spiel zu allerersten Bilderbüchern an“, sagt sie - mit der simplen Frage: „Was ist das?“ Wenn ein Kleinkind dann etwa „Ball“ antworte, sei bereits dies eine große Leistung. Denn das Wiedererkennen und Benennen einer Abbildung fordere das Gehirn in diesem Alter enorm. „Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob wir Vorlesen verordnen sollten“, sagt die Professorin. Türkische Familien pflegten zum Beispiel häufig die Tradition des Geschichtenerzählens. Wichtig sei, dass diese Zeit füreinander in den Alltag einer Familie fest eingebettet sei, ergänzt die Wissenschaftlerin.
Ob Erzählung, klassisches Kinderbuch, Tablet oder Computeranimation an Anregung - das ist für die Forscher dabei gar nicht entscheidend. Aber es bleiben Unterschiede: Vorlese-Kinder lesen später oft selbst viel und gern, nutzen aber auch alle andere Medien. Kinder, die ohne Ansprechpartner allein vor dem Fernseher geparkt werden, greifen dagegen seltener zum Buch - und geben das gute Vorlese-Gefühl oft auch nicht an die nächste Generation weiter.