Erklären statt schimpfen: Mitgefühl entsteht durch Verständnis
Karlsruhe (dpa/tmn) - „Indianer kennen keinen Schmerz“, „Schluss mit der Gefühlsduselei“, „Das Leben ist ungerecht“ - mit solchen Sprüchen fördern Eltern nicht gerade das Mitgefühl ihrer Kinder.
Besser ist es, auf Emotionen einzugehen und den Kummer anderer zu erklären.
Mitgefühl schätzen viele Menschen als hohen Wert. Man könnte sogar die These vertreten, dass die Menschheit ohne diese Fähigkeit vermutlich ausgestorben wäre. Aber wie und wann entsteht Mitgefühl? Auf dem Spielplatz sind die Unterschiede schon früh zu erkennen: Fällt ein Kind hin und weint, trösten manche Spielkameraden. Andere rufen „Heulsuse“ und lachen hämisch.
Die Forschung unterscheidet zwischen Empathie und Mitgefühl. Das ist nicht bloß akademische Haarspalterei, es gibt einen Unterschied: „Empathie ist die übergeordnete Reaktion, das generelle Einfühlungsvermögen“, erklärt die Entwicklungspsychologin Prof. Jutta Kienbaum von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Daraus müsse aber nicht unbedingt der Wunsch resultieren, dass es der anderen Person bessergeht. Auch Unbehagen oder Schadenfreude sind möglich. „Um Schadenfreude zu empfinden, muss ich mich auch sehr gut eingefühlt haben. Aber dann bin ich nicht mitfühlend.“
Als Vorläufer von Mitgefühl gilt die Gefühlsansteckung: Ein Baby fängt an zu weinen, weil ein anderes Kind schreit. Es nimmt das Gefühl des anderen als sein eigenes wahr. „Um zu erkennen, dass es sich um das Gefühl eines anderen handelt, muss ich ein Ich-Bewusstsein entwickelt haben“, erklärt die Psychologin Prof. Doris Bischof-Köhler von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dieses Bewusstsein zeigt sich im „Spiegel-Test“: Wenn sich ein Kind im Spiegel erkennt, kann es die Gefühle eines anderen Kindes als die seinen wahrnehmen. Das lernen Kinder etwa im zweiten Lebensjahr.
„In diesem Alter kann man zum ersten Mal beobachten, dass ein Kind spontan ein anderes tröstet“, erläutert Kienbaum. Lassen sich das Ich und der andere noch nicht so scharf trennen, trösten Kinder oft mit etwas, das für sie selbst gut ist: „Sie holen zum Beispiel den eigenen Teddy oder die eigene Mama, um das andere Kind zu trösten.“
Die Fähigkeit, sich einzufühlen, ist in allen Kindern angelegt, wie Bischof-Köhler erklärt. Ob sie in der weiteren Entwicklung zunimmt oder verkümmert, hänge von der Erziehung ab. „Die Eltern haben eine große Vorbildfunktion“, bestätigt Kienbaum. Wird das Kind selbst getröstet? „Dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es mehr Mitgefühl entwickelt.“ Tolerieren Eltern negative Gefühle wie Scham, Kummer und Angst nicht, ist das eher hinderlich. „Autoritäre Erziehung fördert nicht gerade das Mitgefühl.“
Entscheidend sei auch, wie Eltern reagieren, wenn das Kind quasi „der Täter“ ist, sagt Kienbaum. Haut es seinem Spielkameraden die Schaufel über den Kopf, können Eltern darauf mit einer Strafe reagieren. Oder Mutter und Vater sagen: „Das andere Kind soll sich halt wehren, die Welt ist hart.“ Beide Reaktionen seien ungünstig, so die Psychologin. Eine Strafe lenke die Aufmerksamkeit des Kindes auf die bestrafenden Eltern, nicht auf das, was es getan habe.
Viel besser ist es, mit dem Kind über die Folgen seines Handelns zu sprechen. Nicht schimpfen, rät Kienbaum. „Sondern fragen: 'Wie geht es denn jetzt dem anderen Kind? Was könntest du tun, damit es ihm bessergeht?'“ Das nennt sich induktiver Erziehungsstil und fördert erwiesenermaßen die Entwicklung von Mitgefühl. Gleichzeitig sollten Eltern ihr Kind loben, wenn es von sich aus Mitgefühl zeigt.
Eine hilfreiche Methode sei auch das Vorlesen von Märchen und Sagen aus Bilderbüchern, sagt Andreas Engel von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) in Fürth. „Das kann Kinder in die Welt der Gefühle hineinführen.“ Wie fühlen sich Hänsel und Gretel allein im Wald?
Eltern haben die Möglichkeit, recht früh zu erkennen, ob es ihrem Kind an Mitgefühl mangelt. Andreas Engel nennt ein drastisches Beispiel: „Wenn das Kind Tiere quält, ist das ein deutliches Warnzeichen.“ Auch Aggressivität ist alarmierend: „Eine Rauferei kann viele Ursachen haben. Gefährlich wird es, wenn dem Kind die Gefühle der anderen Kinder vollkommen egal sind.“
Um Mitgefühl zu entwickeln, müssten Kinder selbst erst einmal fühlen können, sagt Engel. Das Gegenteil seien Gleichgültigkeit und Gefühlsleere. „Da fehlt etwas ganz Zentrales. Wir brauchen Zugang sowohl zum Verstand, als auch zu den Gefühlen.“ In der Erziehung bestehe immer ein bisschen die Gefahr, dass die Eltern den Verstand bevorzugen und die Gefühle vernachlässigen.
Dabei zeigt die empirische Forschung: Mitfühlende Kinder sind sprachlich weiter entwickelt, sozial kompetenter, haben bessere Noten in der Schule und sind bei Gleichaltrigen beliebter, wie Kienbaum aufzählt. „Mitgefühl hat eigentlich nur Vorteile.“ Trotzdem stünden viele Eltern den Gefühlen skeptisch gegenüber und fürchteten sogar eine „Verweichlichung“ ihres Kindes. Für Kienbaum ist das kaum verständlich: „In unserer Gesellschaft gibt es wirklich nicht das Problem, dass wir zu viel Mitgefühl haben.“