Kein Schutzraum: „Cybermobber kommen ins Kinderzimmer“
Köln (dpa) - Mobbing im Internet kann besonders grausam und folgenschwer sein. Denn Diffamierung, Hetze und entwürdigende Bilder sind öffentlich, sichtbar für alle. Den Tätern wird es im anonymen virtuellen Raum leicht gemacht.
Ein Riesenschock. Der 13-jährige Tom hat ein Sexvideo gepostet. Sein Facebook-Freund schreibt ihm entsetzt: „Spinnst du total? Was für ein ekliges Video“. Aber: Tom hat gar nichts gepostet, jemand will ihn reinlegen, fertigmachen. „Das war so megapeinlich“, erzählt er. „Jemand muss meinen Account geknackt haben. Und ich konnte das Video nicht löschen.“ In der Schule gab es hämische Kommentare. „Ich wusste nicht, was ich machen soll und hab' mich ganz aus Facebook abgemeldet und eine Woche später mit neuem Passwort wieder angemeldet.“
Cybermobbing gehört zum Alltag vieler Kinder und Jugendlicher in Deutschland. „Mädchen werden gerne in die Schmuddelecke gestellt, als Schlampe diffamiert“, sagt Soziologin und Psychologin Catarina Katzer, Mitautorin einer am Donnerstag (16. Mai) präsentierten umfassenden Studie zum Thema Mobbing im Netz. „Jungen werden oft als "Homosau" fertiggemacht. Man versucht, ihnen Pornos mit Männern anzuhängen“, schildert die Forscherin eines Kölner Instituts für Cyberpsychologie.
Katzer, die auch Mitbegründerin des Bündnisses gegen Cybermobbing ist, betont: „Das Cybermobbing kann viel schlimmer und dramatischer sein, als Mobbing auf dem Schulhof im kleinen Kreis. Früher fühlten sich die Opfer zuhause sicher. Aber heute gibt es keinen Schutzraum mehr. Die Cybermobber kommen ins Kinderzimmer.“ Der Terror laufe oft über einen langen Zeitraum.
Etwa jeder fünfte Schüler hat in der repräsentativen Erhebung angegeben, schon einmal Opfer gewesen zu sein. Fast ebenso viele bekennen, dass sie bereits Täter waren. Das Phänomen Cybermobbing ist alles andere als ein Randthema, es betrifft viele, kommt in allen Schulformen und schon ab dem Grundschulalter vor. Andere Studie waren zuvor zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Viertel oder sogar ein Drittel aller Schüler in Deutschland schon mal Cybermobbing erlebt haben.
„Das Schamgefühl, das Verletztsein ist so schlimm wegen der großen Öffentlichkeit“, weiß Katzer. Sogar vermeintlich gelöschte, bloßstellende Fotos von Partys tauchen irgendwo anders plötzlich wieder auf - manchmal Jahre später. „Das macht die Opfer so hilflos und schutzlos. Sie fühlen sich blamiert, verlieren das Vertrauen, wollen die Schule wechseln, auch ihr Freundschaftsbegriff ändert sich mitunter.“
Die Sensibilität für das Problem ist jedenfalls gewachsen, stellt auch Psychologin Stephanie Pieschl von der Uni Münster fest. „Immer mehr Jugendliche, Eltern, Lehrer und Pädagogen kennen den Begriff.“ Aber: „Cybermobbing ist noch ein relativ junges Forschungsfeld.“ Die Schulen sollten beherzt ran an das Problem: „Die Schule ist der ideale Ort, besonders präventiv gegen Cybermobbing vorzugehen.“
Pieschl zufolge kommt das Mobben via Foto und Video zwar vergleichsweise selten vor, belastet die Jugendlichen aber besonders stark. Auch der Verrat von Geheimnissen kränke und verletzte. „Viele berichten von Wut, Verzweiflung oder ähnlichen emotionalen Folgen und einige von ernsten psychischen Folgen - depressiven oder suizidalen Gedanken - oder psychosomatischen Problemen.“ Drastische Einzelfälle, wenn sich völlig verzweifelte Jungen und Mädchen nach anhaltenden Attacken das Leben nahmen, haben in vielen Ländern aufgeschreckt.
Die jugendlichen Opfer allein können es nicht schaffen, betont Katzer. „Die Kids sind heute in Sachen Internet zwar im Handling sehr fit, aber ihnen fehlt die Lebenserfahrung.“ Dass sich im Internet auch Mobber, Störenfriede, Sexualtäter und Menschen mit kriminellen Absichten tummeln, sei dem Nachwuchs oft nicht bewusst.
Gerade auf Jungen und Mädchen in der Pubertät übten soziale Netzwerke wie Facebook auch deshalb große Anziehungskraft aus, weil sie sich dort selbst darstellen könnten. Viele geben daher Privates aller Art preis - und teilen obendrein noch ihre Passwörter mit anderen oder plaudern sie arglos aus.
Die Täter haben leichtes Spiel mit den „angebotenen“ oft intimen Infos im Netz. Die Anonymität lasse sie hemmungsloser vorgehen. Manche nutzen gezielt fremde Mobiltelefone oder Accounts für ihre Attacken, sagt Katzer, die auch Fortbildungs- und Unterrichtskonzepte für die Schulen zu dem Thema erarbeitet.
In der Praxis zeige sich, dass Freunde und Eltern wichtige Stützen für die Opfer sein können. „Ein erfolgreicher Ansatz sind die jugendlichen Mobbingberater, also ältere Schüler, die Jüngeren zum Beispiel erklären, was passieren kann, wenn man ein Bikini-Foto postet.“ Zu tun gibt es noch viel, betont die Expertin: „Das Thema wird uns alle noch richtig lange beschäftigen und fordern.“