Rekord bei Inobhutnahmen - Viele Familien unter Dauerbelastung

Wiesbaden (dpa) - Gewalt, Verwahrlosung oder jahrelange Flucht: In Deutschland haben die Jugendämter noch nie so viele Kinder und Jugendliche zu ihrem eigenen Schutz in Obhut genommen. Fachleute fordern mehr Hilfen.

Ein Säugling liegt zwischen Müll und Haustieren, ein ausgebüxter Vierjähriger spielt am Bahngleis, ein Grundschulkind zeigt Zeichen von Misshandlung, und ein verprügelter 15-Jähriger sucht Hilfe. In solchen Fällen nehmen die Jugendämter die Minderjährigen zu ihrem Schutz für kurze Zeit in Obhut. Rund 40 200 Jungen und Mädchen waren es im vergangenen Jahr, so viele wie nie zuvor, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Mittwoch (7. August) berichtete.

„Die aktuelle Statistik spiegelt auf drastische Weise wieder, dass sich viele familiäre Strukturen unter einer Dauerbelastung befinden“, sagt der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler. Der seit Jahren kontinuierliche Anstieg weise nicht nur auf eine Überforderung der Eltern hin, sondern zeige auch, dass die Hilfestrukturen dringend verstärkt werden müssten. „Mehr Inobhutnahmen bedeuten mehr Kosten. Doch Jugendhilfe muss zuerst die Menschen im Blick haben und darf nicht auf die Finanzen fixiert sein.“

„Inobhutnahmen sind zwar manchmal unvermeidbar, aber auch eine Notmaßnahme, die das Potenzial hat, die Kinder erheblich zu belasten und die Familienbeziehungen weiter zu zerrütten“, sagt Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut in München. „Der erneute Anstieg ist keine gute Nachricht für den Kinderschutz in Deutschland.“ Zumal auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen zunehme, die wegen akuter Gefährdung in Obhut genommen würden. „Wir müssen in unserem Bemühen, den Familien möglichst frühzeitige Hilfen anzubieten und in Krisensituationen kurzfristige Hilfen verfügbar zu haben, weiter kommen.“

Zugleich werden auch immer mehr minderjährige Flüchtlinge in Obhut genommen, weil sie nicht von Erwachsenen begleitet werden. Jeder Zehnte war es 2012 - gut fünfmal mehr als 2007. In Frankfurt am Main sind das vor allem Jugendliche aus Somalia und Afghanistan, sie kommen mit dem Flugzeug, mit Schleusern oder zu Fuß. „Manche haben Jahre der Flucht hinter sich“, sagt Karin Vossmann vom Jugend- und Sozialamt. Viele wollten weiter nach Skandinavien, um ihr Glück zu suchen.

„Wir versuchen sie willkommen zu heißen, und viele sind sehr dankbar“, sagt Vossmann. „Sie sind sehr interessiert daran, Deutsch zu lernen, einen Beruf zu ergreifen, um irgendwann selbstständig leben zu können.“ Allerdings seien auch viele so traumatisiert von den Erlebnissen in ihrem Heimatland und auf der Flucht, dass sie zunächst eine Therapie bräuchten.

Gewalt ist nach Einschätzung von Harald Grebe vom Offenbacher Jugendamt der Hauptgrund für Inobhutnahmen in Deutschland lebender Minderjähriger, gefolgt von Verwahrlosung. So mancher Jugendlicher bitte selbst darum, entweder beim Jugendamt oder nachts bei der Polizei, weil ihn seine Eltern schwer misshandelten oder die Zustände zu Hause desolat seien. Alkohol, Drogen und psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen steckten oft hinter der Verwahrlosung, die soweit gehen kann, dass Kleinkinder vor dem Verdursten und Verhungern gerettet werden müssen. „Solche Eltern sind oft nicht in der Lage, einen geregelten Tagesablauf für sich selbst herzustellen.“

Manche Eltern seien der Auffassung, dass Gewalt gegen Kinder zulässig sei, sagt Grebe. Viele von ihnen seien früher selbst geschlagen worden und behaupteten, dass ihnen das nicht geschadet habe. Gewalt gegen Kinder werde in der Wissenschaft aber eindeutig als schädlich eingestuft. In Familien, in denen es im Affekt unerwartet zu einer Gewalthandlung kam, könne eine längere Trennung häufiger vermieden werden. Besonders schwierig sei es mit Eltern, die zur Gewalt neigten, dies aber nicht als Problem sähen.

„Ziel der Jugendämter ist es immer, mit den Menschen ins Gespräch darüber zu kommen, wie sie die Schwierigkeiten selbst abstellen können“, sagt Grebe. „Niemand hat ein Interesse, Eltern und Kinder zu trennen, wenn es nicht sein muss.“