Vom „Fall Henri“ zum „Kind Henri“
Walldorf (dpa) - Der Kampf um die schulische Zukunft ihres behinderten Sohns Henri ging an manchen Tagen an ihre Substanz. Doch Kirsten Ehrhardt ließ sich nicht entmutigen. Sie wollte, dass er trotz seines Down-Syndroms ein Gymnasium oder eine Realschule besucht, gemeinsam mit seinen Grundschulfreunden.
Die gesamte Republik diskutierte mit.
Ehrhardt schrieb Pressemitteilungen, saß in der Sendung von Günther Jauch und gab auch sonst viele Interviews. Ihr war klar, dass Henri nie einen Abschluss an der Regelschule schaffen wird, aber darum ging es ihr auch nicht. Sie wollte einfach keinen Sonderweg für ihr Kind. Das war schon früh so, wie ihr Buch „Henri. Ein kleiner Junge verändert die Welt“ zeigt. Es ist ein persönliches Zeitdokument geworden, mal bewegend, mal zum Schmunzeln. Und weniger verbittert als man hätte erwarten können, dafür aber voller Enttäuschung.
„Es ist auch eine Art Abschluss dieses Kapitels“, sagt Ehrhardt im Interview. Während des Schreibens konnte sie noch nicht ahnen, dass die Geschichte in ihrem Sinne ausgehen würde: Nach einem wiederholten Jahr in der Grundschule wechselt ihr inzwischen zwölfjähriger Sohn nach den Sommerferien auf eine Realschule in Walldorf im Rhein-Neckar-Kreis. Diese hatte ihn ein Jahr zuvor noch abgelehnt - nun wird dort eine gemeinsame Klasse für behinderte und nicht-behinderte Schüler eingerichtet. „Wir sind jetzt sehr viel beruhigter, weil wir nun wissen, wie es weitergeht“, sagt Ehrhardt.
Es sei ihr wichtig gewesen, Henris ganze Geschichte zu erzählen. So geht es im Buch erst spät um die Schwierigkeiten bei der Schulwahl. Vielmehr ist es die Lebensgeschichte des Jungen und ein Lehrstück darüber, wie eine Familie lernt, Inklusion zu leben - gegen viele Widerstände. Im Buch schreibt die Mutter: „Oft war über den "Fall Henri" zu lesen. Aber: Henri ist kein Fall, Henri ist ein Kind.“
Aus Sicht der Bundesvereinigung Lebenshilfe hat die Geschichte des Jungen gesellschaftlich einiges bewirkt. „Sie hat eine ungeheure mediale Aufmerksamkeit erzeugt“, sagt ein Sprecher. „Das Thema der inklusiven Schule war plötzlich ganz oben auf der Agenda.“
Die Bundesländer seien beim Thema Inklusion ganz unterschiedlich weit. Während zum Beispiel Schleswig-Holstein vorn mit dabei sei, hinke Baden-Württemberg hinterher, sagt der Sprecher. „Je nachdem, wo man lebt und welche Schule man vor der Haustür hat, ist man als Eltern in einer guten oder schlechten Situation.“
Auch Ehrhardts Buch zeigt, dass es stark vom Umfeld abhängt, wie schwierig das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom ist. Es beginnt mit Henris Geburt am Valentinstag des Jahres 2003. Er hat eine Darmfehlbildung, muss operiert werden und liegt lange im Krankenhaus. Teils wird er mit einem besonderen Blick angeschaut, mit dem „Der-ist-nicht-nur-krank-sondern-auch-noch-behindert-Blick“. „Da liegt das Down-Syndrom“, sagt ein Arzt. Ehrhardt erzählt von der Frau, die auf dem Wochenmarkt in den Kinderwagen schaut und sagt: „Das muss doch heute nicht mehr sein!“ Von Förderdruck, komplizierten Antragsformularen und Menschen, die Henri unterschätzten.
Schon früh entscheiden sich die Eltern gegen eine Sondereinrichtung und schicken ihn in einen Kindergarten, in dem Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam betreut werden. Später besucht er eine Regelgrundschule. „Henri soll nirgendwo nur Gast sein“, schreibt Ehrhardt. „Er soll Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Zumindest soll er es versuchen und nicht nur Obstsalat schnippeln.“ Der Weg in die Realschule steht ihm nun offen. Die nächste große Hürde wird wohl der Übergang in die Arbeitswelt. „Ich hoffe, dass sich in unserer Gesellschaft dann wirklich etwas verändert hat“, sagt Ehrhardt. Sie kann sich Henri gut in einem Service-Beruf vorstellen.