Wenn Kinder Fantasiegefährten haben
Lügde (dpa) - Ich sehe was, was du nicht siehst: Wenn Kinder fantastische Gefährten erfinden, machen Eltern sich oft Sorgen. Dabei sind die imaginären Begleiter sogar sinnvoll. Ein kleines Mädchen aus Nordrhein-Westfalen hatte gleich zwei davon.
Sie haben oft was kaputtgemacht, Huks und Keus. „Die machen nur Blödsinn!“ hat Neele dann geschimpft, die beiden an der Hand genommen und die Treppe zu dem großen Einfamilienhaus hochgezogen. „Das sind zwei ganz ungezogene Jungs.“ Ins Haus durften sie aber nicht. Nicht, weil ihre Mutter das nicht wollte. Neele hat es nicht erlaubt. Außer ihr konnte Huks und Keus ohnehin niemand sehen. Das kleine Mädchen hatte sich die beiden Freunde ausgedacht.
Neeles Mutter, eine moderne, schlanke Frau mit einer eckigen Brille sitzt an dem breiten Esstisch vor einem Kaffee und erzählt. „Ich hab nie gedacht, dass mein Kind keine Freunde hat und sich deshalb welche ausdenken muss“, sagt Anne Potthast. „Aber ich habe mich schon gefragt, wo das herkommt.“
Diese Sorgen kennt die Kinder- und Jugendpsychologin Katharina Ostermann. „Manchen Eltern sind solche Fantasiegefährten unheimlich. Eigentlich sind sie aber etwas Tolles.“ Denn der Expertin zufolge helfen sie Kindern dabei, ihre Identität zu entwickeln. „Dadurch, dass ein Gegenüber konstruiert wird, werden sich Kinder klarer über sich selbst.“ An einem Fantasiegefährten könnten sie sich spiegeln.
Imaginäre Wegbegleiter können alles sein: Menschen, Tiere oder fantastische Wesen. Oft denken Kinder sich einen Freund aus, manchmal auch jemanden, der vieles kann, was Kinder nicht können - oder einen Mutmacher, sagt Ostermann: „Wenn man ins Krankenhaus muss, war der Fantasiegefährte vielleicht schon da und weiß, wie das ist.“ Für die kleine Neele waren Huks und Keus zwei ordentliche Rabauken, die so manches Mal als Sündenbock herhalten mussten.
Neele ging noch nicht in den Kindergarten, als sie sich die fantastischen Freunde erschuf. Ihr kleiner Bruder Nils war noch nicht auf der Welt. Und bis zum nächsten Haus war es ganz schön weit. „Immer nur mit Mama spielen war wohl langweilig“, sagt ihre Mutter.
Fantasiegefährten tauchten häufig in einem Alter auf, in dem die Vorstellungskraft eine bedeutende Rolle spiele, sagt Kinderpsychologin Ostermann. Manchmal seien es ganz konkrete Auslöser, die sie ins Leben riefen: die Geburt eines Geschwisterkindes, das die Aufmerksamkeit der Mutter in Anspruch nehme; oder die Trennung der Eltern, durch die der Vater fehle. Dann diene der Gefährte als Stellvertreter oder Bewältigungshilfe.
Bei Neele waren Huks und Keus einfach da. Mit Mutter, Vater und Nils, 17 Monate alt, wohnt das Mädchen im kleinen Lügde im Weserbergland. Neben dem Haus grasen zwei Kühe. Drinnen guckt Neele auf einer breiten Couch umringt von dicken Kissen eine Pippi-Langstrumpf-DVD.
„Es sind häufig begabte, fantasievolle, gesunde Kinder, die Fantasiegefährten haben“, sagt Ostermann. „Die meisten können ganz klar erkennen, dass ihre Freunde nicht real sind.“ Nach Auskunft der Psychologin hat mehreren Studien zufolge bis zu jedes fünfte Kind irgendwann so etwas wie einen imaginären Freund - in den unterschiedlichsten Formen. „Bei wenigen werden sie aber so prominent, dass sie über längere Zeit ausdifferenzierte Personen sind.“
Huks und Keus hatten irgendwann keine Zeit mehr, mit Neele zu spielen. Oder Neele mit ihnen. Die Vierjährige mit den kinnlangen blonden Haaren geht jetzt in den Kindergarten. „Viele Fantasiegefährten verschwinden mit Beginn der Schule“, sagt Ostermann, „auch, weil die soziale Kontrolle durch Gleichaltrige die Kinder daran hindert, das so offen auszuleben.“
Trotzdem gebe es auch Jugendliche, die imaginäre Freunde hätten. „Ein berühmtes Beispiel ist die Kitty, an die Anne Frank in ihrem Tagebuch schreibt.“ Die Mainzer Psychologie-Professorin Inge Seiffge-Krenke, die Tagebuchforschung bei Jugendlichen betrieben hat, ordne das dem Bereich der Fantasiegefährten zu. „Erwachsene nutzen die Fantasiewelt aber viel seltener für sich“, sagt Ostermann.
Dass sie mal Fantasiegefährten hatten, wissen viele Kinder später von ihren Eltern. „Dann können sie nicht unbedingt unterscheiden: Ist das meine Erinnerung oder weiß ich es nur, weil meine Eltern es mir erzählt haben?“ Das mache die Forschung schwierig - und grenze sie häufig auf die Perspektive der Eltern ein. Irgendwann, nachdem sie weg waren, hat Anne Potthast ihre Tochter noch einmal nach Huks und Keus gefragt. „Aber da kannte sie sie schon gar nicht mehr.“