Alarmierende Studie: Frauen bekommen zu viele Arzneimittel
Berlin (dpa) - Frauen drohen wegen übermäßig verordneter Medikamente häufiger in die Sucht abzurutschen als Männer. Auch sonst tragen Patientinnen oft größere Risiken. Experten fordern Abhilfe.
Frauen bekommen mehr süchtig machende Medikamente und sterben häufiger am Herzinfarkt als Männer: Mit diesen beunruhigenden Ergebnissen schlagen Forscher im Auftrag der größten deutschen Krankenkasse Barmer GEK Alarm. Schon seit längerem wird in der Fachwelt mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Frauen in der Medizin-Versorgung diskutiert. Nun rückt das Problem in den Fokus.
Ärzte in Deutschland verschreiben Frauen mehr Arzneimittel als Männern. Insbesondere der häufige Einsatz von Psychopharmaka ist medizinisch riskant. Auf 100 Frauen entfielen im vergangenen Jahr im Schnitt 937 Verordnungen. Damit lagen sie 22,3 Prozent über den Männern, die auf 763 Verordnungen kamen, wie aus dem Arzneimittelreport 2012 der Barmer GEK hervorgeht.
Frauen bekommen dabei zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka als Männer. Medizinisch seien die Unterschiede kaum begründbar. Nach Angaben der Autoren der Studie bergen die Psychopharmaka zudem ein hohes Risiko, abhängig zu machen.
Schon 2004 zeigte eine Enquetekommission des Landtags in Nordrhein-Westfalen auf, dass Herzinfarkte bei Frauen oft später erkannt und später richtig behandelt werden als bei Männern. Ähnliche Trends stellt auch der neue Arzneimittelreport fest.
Auch ein vom Robert-Koch-Institut herausgegebener Bericht über „Gesundheit von Frauen und Männern in mittleren Lebenslagen“ kam zu dem Ergebnis, dass Ärzte bei Frauen und Männern oft unterschiedliche Maßstäbe anlegten. So komme es vor, dass sie die gleichen Symptome bei Frauen und Männern unterschiedlich deuten.
Der Gesundheitsforscher Gerd Glaeske schlägt Alarm. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein Heer von Abhängigen erzeugen“, sagt der Professor am Bremer Zentrum für Sozialpolitik, der den Arzneimittelreport mitverfasst hat. „Frauen gehen offener mit ihren psychischen Beschwerden um“, sagte Glaeske. „Anstatt dass die Ärzte ihnen zu einer psychologischen Behandlung raten, verschreiben sie ihnen zu oft Arzneimittel.“ Glaeske: „Frauen werden oft in die Abhängigkeit hineintherapiert.“
Typischerweise beginne so eine Karriere der Medikamentensucht im Alter zwischen 45 und 50 Jahren. Die Kinder seien aus dem Haus, eine neue Perspektive fehle oft. „Dann werden die ersten Präparate dieser Art verordnet.“ Im Laufe der Jahre ließen sich viele auch gesetzlich versicherte Patientinnen die umstrittenen Mittel auf Privatrezept verordnen. Für die Ärzte habe dies den Vorteil, dass ihr Verordnungsverhalten nicht auffalle.
Auch gegenüber Schmerzmitteln seien Frauen im deutschen Gesundheitssystem anfälliger. Oft fange die Verordnung dieser Mittel bereits in Jugendjahren an, wenn die ersten Menstruationsbeschwerden einsetzten. Ein Grund für die Probleme der Frauen mit Arzneimitteln sei auch schlicht: „Frauen haben mehr Arztkontakte.“ Sie gingen öfters in die Praxis.