Kinderärzte fordern Reformen
Mediziner kritisieren veraltete Therapiemethoden — Krankenkassen sehen mehr Kosten ohne konkreten Nutzen.
Berlin. Deutschlands Kinderärzte schlagen Alarm: In ihre Praxen kommen immer mehr dicke Kinder, oft mit Bewegungsdefiziten und Sprachstörungen. Bei ihrem Jahreskongress in Berlin benannten sie das Phänomen mit deutlichen Worten: „Soziale Krankheiten“.
„Was wir sehen, hat oft mit einer Unterforderung von Kindern zu tun“, berichtet Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Die heutigen Vorsorgeuntersuchungen seien zu veraltet, um diese Probleme anzugehen. Deutschlands Kinder- und Jugendärzte fordern deshalb neue Richtlinien, die ihnen bei der Vorsorge zum Beispiel eine Ernährungsberatung ermöglichen.
Die teilweise verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen (U1 bis U11) für Kinder werden in Deutschland nach Angaben der rund 6000 Kinder- und Jugendärzte hierzulande sehr gut angenommen. 95 Prozent der Eltern kommen wegen Impfungen oder Tests zur geistigen und körperlichen Entwicklung ihrer Kinder in die Praxen, berichtet der Düsseldorfer Arzt Hermann-Josef Kahl, Präventionsbeauftragter des Verbands. „Wir sehen fast alle Kinder.“ Doch das nutzt nicht immer etwas. Bei Problemen reichten die veranschlagten 15 Minuten pro Untersuchung oft nicht aus, um Eltern ausführlich zu beraten.
„Die Richtlinien sind nicht nur veraltet, sie sind teilweise auch absurd, zum Beispiel ein Flüstertest“, sagt Verbandspräsident Wolfram Hartmann. Ein solcher Test nütze einem Kind, das in einem bildungsfernen Elternhaus nicht richtig sprechen lerne, nichts. Eine Überweisung zum Logopäden sei aber auch der falsche Weg. „Wir können pädagogische Probleme nicht zu medizinischen erklären“, kritisiert Hartmann. Früher hätten fünf bis sechs Prozent der Kinder eines Jahrgangs Hilfen wie Krankengymnastik oder Logopädie erhalten. „Heute sind es 30 bis 40 Prozent.“ Ärzte setzen hier aus Mangel an Alternativen Methoden ein, die dafür nicht gedacht seien.
15 bis 20 Prozent der Kinder in den Praxen hätten Übergewicht, berichtet Klaus Keller, wissenschaftlicher Leiter des Kinderärztetags. Weitere sechs bis zehn Prozent neigten bereits zur Fettsucht mit Folgekrankheiten. „Ich hätte früher nicht gedacht, dass wir einen Typ-2-Diabetes bei Kindern diagnostizieren würden“, sagt er. „Das war mal eine typische Erwachsenenkrankheit.“
Den Ärzten bereiten aber nicht nur Eltern Sorgen, die ihrem Nachwuchs zu wenig geistige Anregung oder Bewegung bieten. „Wir sehen auch Eltern, die ihre Kinder überfordern, vom Babyschwimmen bis zum Sprachkurs“, so Keller. „Wir brauchen eine Art Elternerziehung und Elternschulen“, ergänzt er.
Gesunde Kinderernährung vom Stillen bis zum Jugendalter und Grundfertigkeiten wie frisches Essen müssten manchen Familien erst wieder vermittelt werden. „Natürlich können Ärzte dieses Problem nicht allein lösen. Wir brauchen Netzwerke“, ergänzt er.
Doch die Krankenkassen reagieren skeptisch: Der Sinn von Ernährungsberatung durch einen Arzt bei allen Kindern, auch ohne Übergewicht, könne angezweifelt werden. „Es gibt keine Studien, die einen Nutzen solcher Beratungen zeigen“, sagt Claudia Widmaier, Sprecherin des Verbands der Gesetzlichen Kassen.