Bloggen gegen Tumor „Henry“: Im Netz ist Krebs kein Tabu
Berlin (dpa) - Als Janine Schmidt ihr Profilbild bei Facebook änderte, wussten ihre Freunde mit einem Schlag, was los war: Die junge Frau, auf dem Foto von heute auf morgen ohne Haare, hatte offensichtlich eine Chemotherapie hinter sich.
Seit Ärzte bei ihr einen handballgroßen Tumor unterhalb des Brustkorbs festgestellt hatten und sie sich quasi umgehend einer stationären Therapie unterziehen musste, hatte sie sich zurückgezogen. Rund anderthalb Jahre ist das her.
„Ich hab's geschafft, das hat mich im vergangenen Jahr bewegt“, habe sie mit dem Bild sagen wollen, erzählt die 33-Jährige heute, seit einem Jahr krebsfrei. Hatte sie vor der Diagnose private Inhalte im Internet eher zurückhaltend geteilt, platzte mit dem Posten des Fotos ein Knoten: Die Resonanz von Freunden und die nach der Therapie wiedergefundene Kreativität hätten den Ausschlag gegeben für ein eigenes Blog. Der Titel: „ Fuck off Henry“ („Verpiss dich, Henry“).
Henry? Mit diesem Namen umschrieb Schmidt ihren Tumor intuitiv, kurz nach der Diagnose. Er habe Gesprächen über ihre Gesundheit die Schwere genommen, sagt die Bloggerin. Was sie nun über ihr Leben mit und nach Krebs schreibt, lesen und kommentieren Fremde. Das ist „Krebs 2.0“ - so heißt ihr Vortrag bei der Berliner Stiftungswoche.
Dabei ist die Berlinerin nicht die einzige, die ihre Krankengeschichte im Netz öffentlich macht: Bei Twitter und Facebook nutzen viele Betroffene, vor allem aus den USA, den Hashtag „fuckcancer“, um von ihrer Erkrankung oder der ihrer Mütter und Opas zu berichten: etwa mit Selfies vom Krankenbett oder Make-Up-Tipps.
Internet-Vordenker Jeff Jarvis („What would Google do?“) begann bereits 2009, über seinen Prostatakrebs zu bloggen, um den Austausch über schwere Krankheiten anzukurbeln. Nur mit Offenheit könne man der Krankheit das Stigma nehmen, wehrt er sich noch heute gegen Kritiker, die ein Übermaß an sehr privaten Inhalten im Netz beklagen.
Auch der 2013 gestorbene Autor Wolfgang Herrndorf setzte sich auf dem Blog „ Arbeit und Struktur“ mit seinem Hirntumor auseinander. Struktur in den Alltag bringen: Das könnten Online-Tagebücher leisten, wie Psychologin Elisa Matos May (Berliner Krebsgesellschaft) sagt. Das Geschehen im Netz ähnelt auch traditionellen Selbsthilfegruppen: Die Sorge, andere zu belasten, rückt in den Hintergrund. „Betroffene fühlen sich verstanden und können sich aussprechen“ sagt Matos May. Kommentare könnten aufbauen und Isolation durchbrechen. Je seltener die Krankheit, desto wichtiger sei es, andere Betroffene zu finden.
Sehr selten ist auch Janine Schmidts Krebs (Non-Hodgkin-Lymphom), der das Lymphsystem befällt. Anlaufstellen fand sie nur schwer, Webseiten und Foren sprachen sie nicht an, wie sie sagt. Mitpatienten waren deutlich älter als sie selbst. „Oft bin ich auf US-Seiten fündig geworden, wo das Thema viel offener in die Gesellschaft getragen wird.“ Ebenfalls Optimismus zu verbreiten, habe sie sich vorgenommen. Mit „Fuck off Henry“-T-Shirts und -Abziehtattoos wirbt sie nun Geld für die Krebsstiftung Berlin ein.
Gegen ein echtes Tattoo sprachen womöglich krankmachende Farben. Überhaupt steht das gesunde Leben bei ihr nun im Mittelpunkt: Gemüse, Obst und Sport gehörten verstärkt zum Alltag. Ein Bändchen am Handgelenk zeigt ihr an, ob sie sich heute schon genug bewegt hat. Andere Blogger wie der Italiener Federico Viticci protokollieren sämtliche Körperwerte, Mahlzeiten, selbst den Schlaf. Ohne Smartphone kein gesundes Leben, ist er nach einer Chemotherapie überzeugt.
Viele Daten sind öffentlich - eine Gefahr? „Jeder Patient darf natürlich frei über seine Krankengeschichte verfügen“, sagt Berlins Datenschutzbeauftragter, Alexander Dix. Er rate aber dringend, die Wahl der Plattform gut zu überdenken: „Intimität bei Facebook ist eine Illusion.“ Auch Arbeitgeber suchten im Netz Infos über Bewerber.
Psychologin Matos May rät Patienten auch dazu, im Internet unter Pseudonym zu kommunizieren und Foren auf deren Ziele und Datenschutz zu prüfen. Janine Schmidt, Freiberuflerin in der PR-Branche, hat lange gehadert: „Wer weiß, wie es gelaufen wäre, würde ich nicht in der Großstadt leben und in einem konservativen Beruf arbeiten?“ Noch im Krankenhaus hatte sie sich sogar eine Google-Sperre auferlegt. „Ich habe nur meinen Ärzten vertraut und sie mit Fragen gelöchert.“