Das zweite Gesicht aus Silikon
Berlin (dpa) - Menschen mit Tumoren im Gesicht leiden mehrfach: An der Krankheit und an der sichtbaren Entstellung. An der Berliner Charité gibt es eines der wenigen Fachzentren Deutschlands, die künstliche Gesichtsteile für Betroffene anfertigen.
Johanna K. ist eine fröhliche Frau. Doch wenn die 83-Jährige lacht, schaut man unwillkürlich zweimal hin. Denn ein Drittel ihres Gesichts lacht nicht mit: Es besteht aus eingefärbtem Silikon. Unbeweglich bedeckt es ihre linke Gesichtsseite vom Unterlid über die Nase bis hinab an den Unterkiefer. Trotzdem ist das künstliche Gesichtsteil ein großes Geschenk für Johanna K., die einen seltenen Gesichtstumor hatte. „Meine Epithese gibt mir die Möglichkeit am Leben teilzunehmen“, sagt sie. Das Berliner Zentrum für künstliche Gesichtsteile, angegliedert an die Charité-Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, hat ihr dabei geholfen.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass sich Menschen wie Johanna K. kaum an die Öffentlichkeit trauten. Ihre Gesichtswunden musste sie notdürftig hinter Verbänden, Pflastern oder schlecht sitzenden Gesichtsteilen verbergen, die Tag für Tag neu angeklebt werden mussten. Heute ist es Standard, dass die sorgsam angepassten Epithesen mit Magneten fixiert werden. „Ähnlich wie bei Zahnimplantaten werden dazu Titanstifte in die verbliebenen Knochen eingesetzt und die Epithese dann daran festgeklickt“, erläutert der leitende Oberarzt der Klinik, Jan-Dirk Raguse.
Anders als nach Unfällen, wo plastische Chirurgie vielen Verletzten bei der Gesichtsrekonstruktion helfen kann, ist es vor allem bei Krebserkrankungen zunächst nicht immer sinnvoll, neues Gewebe aufbauend einzupflanzen. „Wir müssen ja sehen, was sich darunter entwickelt, ob der Tumor vielleicht wiederkommt“, sagt Raguse. Deshalb führt der Weg mancher Klinikpatienten nach der Tumoroperation ein paar Flure weiter - zum Zentrum für künstliche Gesichtsteile.
Ohren, Nasen und Augen aus Wachs stehen dort im Abdruckraum herum, daneben Dutzende Arbeitsspatel, Zahnbürsten mit Metallborsten - zum Eindrücken von Hautporen-, außerdem Computer, eine Presse für Gipsabdrücke und ein kleiner Ofen zum Aushärten der Modelle. „Auch wenn man es auf den ersten Blick vielleicht nicht denkt - aber wir lachen hier viel mit unseren Patienten“, sagt die Anaplastologin Yvonne Motzkus. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Kerstin Menzel betreut sie einen Stamm von 200 bis 300 Patienten aus Berlin und aller Welt, 70 bis 80 Epithesen entstehen hier pro Jahr.
Auch die von Sabine Schönefeld (61) gehört dazu. Sie verlor 1997 durch schwarzen Hautkrebs auf der Bindehaut ein komplettes Auge, inklusive Ober- und Unterlid. Ein Klick, und ihre im Gesicht fast unsichtbare Orbitaepithese (Auge plus Umgebung), liegt in ihrer Hand: Ein verschmitzt blickendes, grünbraunes Auge mit fein ziselierten Wimpern. „Ich habe mittlerweile meine siebte Epithese - und alle sorgfältig aufbewahrt. Ich kann mich nicht von ihnen trennen, sie sind irgendwie ein Stück von mir“, sagt Schönefeld. Sie ist zu einem der regelmäßigen Nachsorgetermine aus Halle nach Berlin gereist und begrüßt die beiden Anaplastologinnen herzlich wie alte Freundinnen.
Alle zwei Jahre werden die Epithesen neu angepasst. Denn auch sie sollen dezent mitaltern. „Dazu machen wir zunächst ein Modell aus Wachs und passen seinen Sitz an“, erzählt Motzkus. Ein Gipsabdruck des Wachsmodells liefert wiederum die Vorlage für die Silikon-Ausführung. Dafür mischen die Expertinnen die passende Hautfarbe aus einer Palette mit Dutzenden Tönen. Zusätzlich werden winzige farbige Filzflöckchen in die Silikonmasse eingearbeitet. „Tränensäcke etwa haben viele Äderchen und verschiedenste Farben“, sagt Menzel. Unerlässlich deshalb: Die Patientin sitzt zum Farbabgleich direkt daneben.
Manchmal müssen die Expertinnen auch noch früher ansetzen. „Wir werden oft schon zu Operationen dazu gerufen, um gemeinsam mit den Chirurgen zu besprechen, wie und wo die Epithese sitzen soll“, sagt Motzkus. Um etwa eine fehlende Nase neu aufzubauen, bedienen sie sich mittlerweile modernster Technik, eines 3D-Programms aus der Filmbranche. Auf Basis einer Computertomographie des Kopfes wird die neue Nase modelliert. „Nächster Schritt wird sein, dass wir das Modell dann auch dreidimensional ausdrucken können“, sagt Motzkus.
Klinikchef Bodo Hoffmeister betont einen weiteren Vorteil aus dem Bereich der 3D-Technik: „Auch das Trägergerüst aus Titan kann dadurch heute ganz individuell angefertigt werden.“ Sprich: Die Nasenepithese sitzt dann auf einem exakt passenden Nasenbein aus Titan.
Wie wichtig Genauigkeit und Typentsprechung der Epithese sind, wird schnell klar, wenn ein Gesichtsteil nicht ideal ausgearbeitet wurde. „Denn wenn etwas schlecht passt, gibt es das verstörende Phänomen des „Uncanny Valley““, erzählt Motzkus. Als „unheimliches Tal“ wird der Befremdungseffekt beim Blick in ein Gesicht beschrieben, dessen Proportionen allzu offensichtlich nicht stimmen. Die meisten Patienten sind mit ihren Epithesen jedoch zufrieden. Sie haben sie als Gesichtsteil sozusagen innerlich adoptiert. Mentzel: „Eine Patientin beteuert sogar, dass sie besser sehen kann, wenn sie ihre Augenepithese trägt.“