Esskultur: Eine Arche für bedrohte Obstsorten und Tierrassen
Stuttgart (dpa/tmn) - Manch alte Obstsorte oder Nutztierrasse ist vom Aussterben bedroht, weil sie aufwendiger zu pflegen ist und nicht so viel Ertrag bringt wie eine moderne Züchtung. Die „Arche des Geschmacks“ der Genießervereinigung Slow Food bewahrt sie vor dem Vergessen.
Stoisch mampft Rotti ihr Heu. Sie lässt sich durch die aufgeregten Kinderstimmen nicht aus der Ruhe bringen, die ihren Eltern zurufen: „Guck mal, da ist ja auch ein Kleines!“ Mit ihrer langen Zunge versucht die Kuh, noch mehr Halme durchs Gitter ins Gehege zu ziehen. Hugo, ihr zwei Monate altes Kalb, ist schüchterner. Es versteckt sich lieber hinter seiner Mutter.
Rotti und Hugo sind Limpurger Rinder. Sie gehören zur ältesten Rinderrasse Württembergs. Genügsam und fruchtbar, sehr ergiebig bei der Schlachtung und feinfaserig im Fleisch seien die Viecher, sagt Josef Holl von der Züchtervereinigung Limpurger Rind. Die Züchter waren mit Rotti und Hugo kürzlich auf der Messe Slow Food in Stuttgart vertreten, um auf den Erfolg der Züchter zu verweisen: „Vor 25 Jahren gab es gerade mal noch 35, jetzt sind es 450 Tiere“, erläutert Holl.
Fast Vergessenes erhalten und Verlorenes wiederentdecken: Was sich viele Küchenchefs und Genießer mittlerweile groß auf die Fahnen schreiben, macht die internationale Genussvereinigung Slow Food schon seit ein paar Jahren. Ihre Mitglieder sammeln Wissen über Nutztierrassen, Nutztierpflanzen und handwerklich hergestellte Lebensmittel, die vom Aussterben bedroht sind. Diese Dokumentation der regionalen geschmacklichen Vielfalt nennt sich „Arche des Geschmacks“ und hat derzeit 31 Passagiere aus Deutschland, der Weideochse vom Limpurger Rind ist einer von ihnen.
Viele Produkte hätten unter den gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen kaum eine Chance, weil sie für die moderne Landwirtschaft nicht intensiv genug nutzbar sind, erläutert Martina Hasewinkel von der Slow-Food-Kommission. Wie etwa das Filder-Spitzkraut, dessen Ernte sich aufwendig gestaltet, ebenfalls ein Arche-Passagier.
Wegen ihrer zylindrischen Form lassen sich die bis zu zehn Kilogramm schweren Kohlköpfe nur von Hand ernten und aufladen, wie Jörg Kimmich von der gleichnamigen Sauerkonserven-Firma erläutert. Aber es lohne sich: „Das Filder-Spitzkraut hat eine sehr feine Blattstruktur, weniger Strunkanteil, ein milderes, feineres und süßlicheres Aroma als runder Weißkohl und ist damit die perfekte Ausgangswahl für Sauerkraut.“
Der Anbau oder die Haltung ist aber nur eine Seite, auch auf die Weiterverarbeitung kommt es bei den Arche-Passagieren an. Ein Beispiel dafür ist die Kasseler Ahle Wurscht, ebenfalls an Bord der Arche. Die Schweine dafür werden gleich nach der Schlachtung warm verarbeitet. In der industriellen Wurstproduktion dagegen wird das Fleisch erst verarbeitet, wenn die Totenstarre eingetreten, es „kalt“ geworden ist.
„Für das Auslösen, Kleinschneiden, Sortieren und Salzen haben wir nur etwa zwei bis drei Stunden Zeit“, erläutert Fleischer Dieter Rohde, Slow-Food-Mitglied aus Nordhessen. Das hänge mit den Stoffwechselvorgängen zusammen, die nur noch wenige Stunden nach dem Schlachten im Fleisch ablaufen. Sie machen den sonst zur Bindung der Wurstmasse üblichen Zusatz von Phosphat überflüssig und aromatisieren auf natürliche Weise - ohne Geschmacksverstärker.
Ein ähnliches Beispiel ist der Schaumwein aus der Champagner Bratbirne. Die alte Obstsorte eignet sich aber bestens fürs Vergären. Schon um 1760 sei daraus Schaumwein hergestellt worden, sagt Jörg Geiger, der sie in seiner Manufaktur in der Nähe von Göppingen verwendet. Bei der Birne kommt aber noch etwas dazu: der Erhalt einer alten Kulturlandschaft mit ihren regionalen Sorten. Auf den Streuobstwiesen, auf denen die Birne wächst, könne ein Baum noch ein Baum werden - mit acht, zehn oder zwölf Metern Höhe, erläutert Geiger. Martina Hasewinkel bringt all das so auf den Punkt: „Essen, was man retten will - und Schützen durch Nützen.“