Megatrend Medizin-Apps: Doktor Smartphone statt Arztpraxis?
Bonn (dpa) - Martin Schneider hat einen sehr kleinen Berater in Gesundheitsfragen: sein Smartphone. „Ich habe eine App, die meinen Bedarf an Eiweiß, Kalorien oder Fetten so berechnet, dass ich mein Gewicht halte und ausgewogen esse, und das funktioniert gut“, erzählt der 18-Jährige.
„Gehe ich zum Sport, passt das Programm meinen Verbrauch an“, sagt Schneider. Wenn er einen Joghurt ist, fotografiert er den Becher oder tippt den Produktnamen ein - und eine App listet ihm auf, was genau drin ist. Aber: „Wenn meine Haut wieder durchdreht, gehe ich zum Arzt. Nur ein Foto von meiner Haut in die Praxis zu mailen zur Diagnose, kommt für mich nicht infrage“, sagt der Allergiker.
Die Programme für Smartphones und Tablets oder auch fürs Handgelenk als Uhr oder Band - Wearables - sind ein Megatrend. Die Flut von Angeboten ist kaum überschaubar. Unter drei Millionen Apps gibt es bereits rund 87 000 Angebote für den Bereich Fitness-Wellness und etwa 55 000 medizinische Apps. Das berichtete Hartmut Gehring vom Uniklinikum Schleswig-Holstein bei einer Experten-Tagung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Nicht immer ist unterscheidbar, ob die Apps nur Infos bieten, eher zu Lifestyle und Fitness gehören oder ins Medizinische reichen.
Eine „digitale Revolution in der Gesundheitsbranche“ sieht Sandra Hoyer vom Bitkom-Arbeitskreis E-Health. Die Apps können viel. Puls- oder Blutdruckmessen gehört mit dem entsprechenden Zubehör zu den leichten Übungen. Zur Erkennung von Hautkrebs könne der Patient den verdächtigen Fleck auf der Haut mit dem Smartphone ablichten und das Foto zur Auswertung an den Arzt mailen, heißt es. Nützlich für chronisch Kranke: Erinnerung an Medikamenten-Einnahme, Dokumentation von Nebenwirkungen, von Blutwerten oder Migräne-Anfällen.
Genutzt werden Seh- oder Hörtests, es gibt Nierenfunktionsrechner, Apps für Parkinson-Patienten, Diabetiker, Asthmatiker oder Menschen mit Schlafproblemen. Mancher Verbraucher sehe aber - wie auch viele Ärzte - die Gefahr einer Fehldiagnose, zitiert BfArM-Experte Wolfgang Lauer aus einer Umfrage. Ein boomender Markt mit neuen Möglichkeiten. „Vielversprechend, aber auch problematisch“, meint Lauer.
Für die beiden führenden Smartphone-Plattformen (Android von Google und iOS von Apple) gibt es in den aktuellen Systemversionen jeweils eine zentrale Anlaufstelle und eine eigene Entwicklungsumgebung zum Thema Gesundheit. Beim iPhone heißt das „Apple Health“, das Android-Pendant wurde „Google Fit“ genannt. Die Sammeldepots für Medizin- und Fitness-Werte führen Daten aus verschiedenen Programmen und Sensoren zusammen.
Die Apps ermöglichen mehr Eigenregie des Patienten in der Behandlung, sagt Präsident Karl Broich. Und wieder ein Aber: Es bestehe die Gefahr einer Fehldiagnose und der Fehlinterpretation von Bildern. Was nicht passieren sollte: „Dass die Leute sagen: Ich muss nicht mehr zu meinem Arzt oder Apotheker.“ Sich allein auf Doktor Smartphone zu verlassen, sei riskant, glauben viele. Manche Hersteller weisen ebenfalls darauf hin, dass ihre App eine „qualifizierte ärztliche oder medizinische Betreuung“ nicht ersetzt.
Auch in Arztpraxen oder im Klinikalltag werden Apps eingesetzt - quasi für die Kitteltasche. Bei Operationen werden sie etwa zur Steuerung der OP-Roboter eingesetzt. Narkosearzt Gehring berichtet von einer Software, die bei der Dosierung von Medikamenten in der Kinderintensivmedizin hilft. Er selber halte es so: Komme ein Patient mit einer via App gewonnenen fertigen Diagnose zu ihm, glaube er zunächst mal dem „mündigen Patienten“, kontrolliere aber doch lieber nach, wenn ihm die Daten nicht plausibel erscheinen.
Eine „Medical App“ ist dann als Medizinprodukt zu bewerten und muss entsprechende Standards erfüllen, wenn die Software laut Hersteller „der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten“ dient. Das stellt der Essener Medizinrechtler Volker Lücker klar. Bei Überwachung der Hersteller und Kontrolle der Medical Apps sei aber vieles noch ungeregelt, meinen Fachleute. Trotzdem ein Segen, sagt Markus Müschenich vom Bundesverband Internetmedizin. „Sie bringen die Medizin da hin, wo der Patient ist.“ Das Angebot schaffe es, den Patienten in seinem Alltag zu begleiten. Und: „Auch beim Arzt gibt es Fehldiagnosen.“