Progressive Muskelentspannung: Ganz entspannt in den Tag
Mit Übungen nach Edmund Jacobson soll man schon nach ein paar Seminarstunden all seinen Stress hinter sich lassen können – ein Selbstversuch der Redaktion.
Düsseldorf. "Wie geht es Ihnen heute?" Ich sitze auf einer Sportmatte in einem hellen, holzgetäfelten Raum. Es duftet dezent nach Minze. Vor mir liegt ein kleiner, blank geputzter Spiegel. Ich denke nach, zupfe an meiner bequemen Trainingshose.
Wie es mir geht? Kopfschmerzen, erfühle ich einen Impuls. Und frage den Spiegel, was der Kursleiter mit dieser Einstiegsfrage bezweckt. Er antwortet nicht. Ich horche in mich hinein. Der Nacken ist steif. Und ein wenig Bauchschmerzen habe ich auch. Ein weiterer scheuer Blick in den Spiegel.
Fällt mir auch etwas zu meinem Gemütszustand ein? Gestresst, notiere ich im Geiste und beobachte die Augen meines Konterfeis. Anschließend lege ich den Spiegel weg. "Vielen Dank - in einer Stunde halten Sie sich erneut den Spiegel vor und schauen, ob sich etwas in Ihnen verändert hat."
Freundlich schaut der Kursleiter in die Runde. Vor ihm sitzen neun Teilnehmerinnen, die neugierig, aber auch mit hohen Ansprüchen darauf warten, die Progressive Muskelentspannung (PM) nach Jacobson kennenzulernen. "Ich komme nach Feierabend nie von den Gedanken an meine Arbeit los. Dann schlafe ich schlecht ein und bin am nächsten Tag total erschöpft", berichtet eine Teilnehmerin von ihren Motiven, dem Stress entgegenzuwirken.
Eine andere bekennt, dass sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle habe, dass sie ständig verkrampfe - und dass Bilder, die sie lieber verbannen würde, immer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchten.
Nach dieser ersten Bestandaufnahme legen wir uns flach auf den Rücken. Arme und Hände werden neben dem Körper abgelegt, Handflächen nach oben. Die Beine sind ausgestreckt, die Füße kippen in einem kleinen Winkel nach außen.
"Prüfen Sie, ob Sie wirklich vollkommen entspannt liegen. Alles andere ist jetzt nicht mehr wichtig", sagt der Kursleiter. Dann wird seine Stimme leiser, langsamer. Hypnotisch fährt er fort, seine Worte klingen angenehm in den Übungsraum: "Sie liegen jetzt ganz entspannt auf Ihrer Matte. Jeder Muskel Ihres Körpers ist locker. Spüren Sie in sich hinein. Spüren Sie, wie Ihre Füße, Ihre Beine, Ihr Gesäß, Ihr Rücken und Ihr Kopf auf der Unterlage aufliegen. Lassen Sie alle Gedanken, die kommen, einfach ziehen. Wie ein Windhauch gleiten sie vorüber. Halten Sie sie nicht fest."
Nichts festhalten. Alles fliegt an mir vorbei. Ein Problem, noch eines, beim dritten bleibe ich hängen - und beginne zu grübeln. Bis mich die Stimme des Kursleiters wieder zurückruft. "Atmen Sie ganz ruhig, durch die Nase ein, durch den Mund aus. Atmen Sie tief in Ihren Bauch hinein. Begleiten Sie in Gedanken, wie sich Ihre Bauchdecke hebt und senkt."
Ich ärgere mich. Warum gelingt es mir nicht, seinen Worten zu folgen? Erneuter Konzentrationsversuch. Dann folgt eine weitere Übungsanweisung: "Ballen Sie die rechte Faust und atmen Sie dabei ganz normal weiter. Und jetzt: Anspannen! So fest Sie können. Weiter atmen, anspannen, in die Spannung hineinfühlen, fester anspannen, dabei immer weiteratmen und - lösen."
Das letzte Wort dehnt er in die Länge. Ich nutze die Zeit, um langsam auszuatmen, während sich meine zur Faust geballten Finger wieder entfalten. Sie fühlen sich angenehm warm an. Und locker, ganz leicht.
Als nächstes sind Unter- und Oberarme, Füße, Oberschenkel, Rücken, Nacken und Gesicht an der Reihe. Das Schema ist einfach: ruhig atmen, beim nächsten Einatmen die betroffene Muskelgruppe anspannen, dabei langsam weiteratmen, die Spannung bewusst fühlen, nach wenigen Sekunden wieder entspannen. Jede Übung wiederholen wir einmal, und immer halten wir dieselbe Reihenfolge ein.
Wichtig sei, sagt der Kursleiter, dass man sich genau auf den einen Körperteil konzentriere. "Spannen Sie zum Beispiel nur Ihren Fuß an, nicht das ganze Bein."
Während der fortlaufenden Stunden des Entspannungskurses lernen wir, je nach aktuellem Gemütszustand negative Gedanken und Gefühle wie Sorgen und Ärger in das angespannte Körperteil zu senden. Und alles auszuatmen. Und im Sitzen zu entspannen. Und im Stehen.
Zudem arbeitet der Kursleiter in manchen Stunden mit visuellen Techniken: zum Beispiel mit Farben, die Körperteile ausfüllen, mit abstrakten Formen oder Gegenständen, die unsere individuellen Stimmungen beschreiben sollen. Das alles sind zusätzliche Elemente, mit denen er das klassische Verfahren aufwertet.
"Die PM wirkt ganzheitlicher, wenn auch der Atem, Temperatur oder Bilder eingesetzt werden", sagt der Kursleiter. Aus diesem Grund hat er die klassische Progressive Muskelentspannung nach seinem eigenen Konzept individualisiert.
Den Ablauf seiner Übungsstunden stimmt er stets auf die Situation und Wünsche seiner Teilnehmer ab. "Die PM ist ein Teil der Selbsthypnose. Man gibt sich selbst Anweisungen - positive Schwingungen, die gegen negative Erfahrungen und negative innere Einstellungen wirken", sagt der Kursleiter. Man lerne unter anderem, dass Erfolg Übungssache sei und auf die Hinweise des Körpers zu achten, denn: "Er zeigt uns den Weg zurück in eine empfindsamere, angenehmere Welt. Das Tor zu ihr ist der aufmerksame Umgang mit sich selbst."
Nach der zwölften Stunde ist der PM-Kurs zu Ende. Das Fazit? Nicht nur ist die Liste der Beschwerden, die wir weiterhin vor Beginn jeder Einheit im Stillen mit unserem Spiegelbild erörterten, viel kürzer geworden. Auch meine Einstellung zu einigen Stressfaktoren hat sich geändert. Mit Willensanstrengung lasse ich seitdem so manchen unangenehmen Gedanken schlicht an mir vorbeifliegen.