„Slow Reading“ - Wenn Lesen zur Yoga-Übung wird
Berlin (dpa) - Nach Slow Food und Slow Travel nun also Slow Reading - das langsame Lesen. Die Idee: Man trifft sich in einem Café zum Lesen. Jeder bringt sein eigenes Buch mit und schaltet das Handy aus.
Dann wird eine Stunde in gemeinschaftlicher Schweigsamkeit und ohne Ablenkung gelesen.
So halten es etwa die Mitglieder eines neuseeländischen „Slow Reading Clubs“, der weltweit Ableger gefunden hat, in Deutschland aber bisher ohne Nachahmer geblieben ist.
Eine Mischung aus Entschleunigung und digitaler Entgiftung? Der Slogan des „Slow Reading Clubs“ klingt tatsächlich wie ein Yoga-Mantra: „Calm Body, Curious Mind, Open Heart“ - ruhiger Körper, neugieriger Geist, offenes Herz. Die Gründerin Meg Williams beschreibt sich selbst auf ihrem Blog als eine „begeisterte Leserin“, die sich aber irgendwann nicht mehr daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal ein Buch von vorne bis hinten durchgelesen hatte - zu beschäftigt war sie damit, ihre E-Mail zu checken oder auf Facebook zu surfen.
Zumindest in Deutschland bleibt die Zahl der Leser nach einer Studie im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels allerdings weitgehend stabil. Danach wurden 2015 83 Prozent der Befragten als Buchleser bezeichnet - vor sieben Jahren waren es 90 Prozent. Ein Drittel liest mehr als 18 Bücher im Jahr.
Die neuseeländische Gruppe hat bereits Ableger in Europa, Nordamerika und Asien. In den USA sind ähnliche Projekte unter dem Namen „Silent Reading Party“ entstanden. In Deutschland gibt es noch nichts mit einer vergleichbaren Organisationsstruktur. Der Leseforscher Ralph Radach von der Bergischen Universität Wuppertal ist aber ganz begeistert: „Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee.“ Gute Bücher lese er sogar zweimal. Das erste Mal, um die spannende Geschichte zu erleben. Das zweite Mal, um den Genuss möglichst in die Länge zu ziehen und tief in die Details der Handlung einzutauchen.
Die Neuseeländerin Williams gibt auf ihrem Blog zehn konkrete Tipps, damit das langsame Lesen auch klappt. Darunter: Handy ausschalten, im Zweifel mit etwas einfachem starten, Lieblingsbücher ein zweites Mal lesen - denn das würde sich anfühlen, wie das Wiedertreffen mit einem alten Freund.
Schnelles Lesen sei aber nicht grundsätzlich schlecht und gehe auch nicht zwingend zulasten des Verständnisses, sagt Leseforscher Radach. Vielmehr sollte man die Lesegeschwindigkeit daran anpassen, ob man im beruflichen Kontext oder zum Vergnügen lese. „Romane sollte man unbedingt langsam lesen, um die Zeit des Genusses zu verlängern“, sagt Radach.
Aber warum nicht einfach in eine Bibliothek gehen? Deren öffentliche Lesesäle - im Grunde jahrzehntealte Vorgänger der „Slow Reading Clubs“ - sind im Zweifel täglich geöffnet und das länger als für eine Stunde. Der Literaturbloggerin Sophie Weigand gefällt denn auch der Gedanke, zu einem konzentrierteren Lesen zu finden. Ob sie dafür aber regelmäßig zu einem „Slow Reading Club“ gehen würde, ist sie sich nicht sicher.
Allerdings: Vielleicht brauche es manchmal diesen sozialen Druck, den „Arschtritt“, sagt Weigand. „Allein trickst man sich dann doch immer wieder aus, guckt aufs Handy oder lässt sich auf andere Weise ablenken.“ Im „Slow Reading“ sieht sie eine Gegenbewegung angesichts des immer beschleunigteren Alltagslebens.
Und so finden auch Williams Empfehlungen zum langsamen Lesen irgendwann wieder in den Yoga-Jargon zurück: Schließe Deine Augen, konzentriere Dich auf fünf tiefe Atemzüge, öffne Dein Buch - und genieße. Aber Achtung, übertreiben Sie es nicht. „Man kann auch zu langsam lesen“, warnt Leseforscher Radach. Dann drohten die Gedanken abzuwandern. Den Trend sollte man daher eher im Sinne eines „tiefgründigen und nachhaltigen Lesens“ verstehen, empfiehlt der Experte.