Verbesserte Therapien für Kinder mit Hirntumoren
Hamburg (dpa) - Die Diagnose Hirntumor bei Kindern ist niederschmetternd. Doch die Überlebensraten haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verbessert. Auf einer Tagung in Hamburg lassen sich Eltern von Ärzten auf den neuesten Stand der Therapien bringen.
Kurz vor Weihnachten 1997 traf es die Familie Marx wie ein Schlag: Bei der noch nicht einmal einjährigen Tochter wurde ein Hirntumor entdeckt. Zuvor hatte das Mädchen ein auffälliges Augenzittern gehabt. „Ich dachte erst einmal, das Kind ist in sechs Wochen tot“, sagt der Vater. So ist es nicht gekommen. Vater, Mutter und die 15-jährige Tochter sitzen am Tisch im Congress Center Hamburg. Aus Hessen sind sie angereist, um sich Freitag und Samstag auf einer Tagung mit anderen Familien und Experten auszutauschen.
Dieses vergleichsweise einzigartige Treffen des Behandlungsnetzwerks HIT für Kinder und Jugendliche mit Hirntumoren gibt es in dieser Form alle zwei Jahre. Diesmal sind etwa 450 Menschen angemeldet, darunter 24 Kinder. Neue Therapien und Techniken werden unter die Lupe genommen: Sind sie der rettende Strohhalm?
Hirntumore sind selten, nach Angaben des Netzwerks erkranken jährlich mindestens 400 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Nach der Leukämie sind sie die zweithäufigste Krebsform bei Kindern. Doch weil sie so rar sind, gibt es auch nur wenige Experten, und die sind auf das ganze Land verteilt. Die Tumore unterscheiden sich außerdem stark untereinander, was Wachstum, Metastasen und Ansprechbarkeit auf Therapien angeht. „Viele Familien haben monatelang Ungewissheit, bis die richtige Diagnose gestellt wird“, sagt Renate Heymans von der Deutschen Kinderkrebsstiftung (Bonn), die das Netzwerk fördert.
Nachdem verschiedene Mediziner die Bilder vom Kopf ihrer Tochter gesehen hatten, gab es mehr Klarheit für Familie Marx. Es stellte sich heraus, dass der Tumor wenig bösartiger Natur war, und vom Sehnerv ausging. Das hieß aber auch: Eine Operation ist nicht möglich. Die Expertin für diese Tumorart arbeitete in Augsburg, Familie Marx lebte damals in München. Das Mädchen machte zwei Chemotherapien, im Alter von acht bekam sie noch eine Bestrahlung. „Seither ist Ruhe“, sagt die Mutter. „Doch es bleibt die Angst, dass in oder nach der Pubertät ein neuer Schub kommt.“
Weil die Therapien in den vergangenen Jahren immer besser geworden sind, befassen sich die Mediziner zunehmend mit der Erkennung und Vermeidung von Spätfolgen durch Strahlen- oder Chemotherapien. „Schert man alle über einen Kamm, dann werden 60 bis 70 Prozent der Kinder gesund“, sagt Prof. Stefan Rutkowski, Kinderonkologe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Es gibt natürlich Untergruppen, da liegt die Prognose nur bei 20 Prozent Heilungschance, bei anderen bei 80 bis 90 Prozent. Das kommt auch immer darauf an, wie früh solch ein Tumor erkannt wird“, ergänzt Mediziner, der auch Sprecher des HIT-Netzwerks ist.
Rutkowski zufolge leidet etwa die Hälfte der Kinder nach der erfolgreichen Bekämpfung des Krebses an Spätfolgen. „Die Ursachen sind vielfältig, es können Intelligenzdefizite auftreten, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Verlangsamungen, Seh- und Hörstörungen, aber auch Störungen des Hormonhaushaltes und Unfruchtbarkeit, sowie Zweittumoren. Die Bestrahlung des gesamten Gehirns gilt beispielsweise als Hauptursache für spätere Beeinträchtigungen der geistigen Fähigkeiten.“
Um einen Überblick zu haben, gebe es daher eine Studie, bei der Kinder nach einer Hirntumor-Behandlung auf ihre geistigen Fähigkeiten gezielt getestet werden, berichtet Rutkowski. Auch gebe es eine Pilot-Studie zu Gedächtnistraining bei betroffenen Kindern und Jugendlichen. Für die Behandlung eines bösartigen Tumors, dem Medulloblastom, wurde zudem eine Therapievariante für Kleinkinder etabliert. Weil die kleinen Patienten besonders empfindlich auf Strahlen reagieren, soll eine neuartige Chemotherapie die Bestrahlung ersetzen. „Es ist viel in Bewegung, zielgerichtete Therapien wie Antikörper oder spezielle Hemmstoffe der Tumorzellen werden vermutlich in der Zukunft zu noch weniger Nebenwirkungen führen, doch bis dahin wird es noch Jahre dauern.“
Aber wer ist hier Arzt, und wer Angehöriger? Die Eltern diskutieren versiert mit den Medizinern. „Viele Eltern von Hirntumorkindern möchten möglichst viel über die Erkrankung ihres Kindes erfahren. Bei dieser Diagnose ändert sich das Leben der gesamten Familie meist schlagartig“, sagt Rutkowski. Im ersten Stock sitzt Familie Marx in einem Workshop in der ersten Reihe. „Wir wollen einfach auf dem neuesten Stand sein“, sagt der Vater.