Stirbt das Buchregal aus? Billy und seine Geschwister
Berlin (dpa) - Alle reden von E-Books. 2011 wurden mit 4,7 Millionen Netz-Büchern doppelt so viele verkauft wie im Jahr zuvor. Aber was wird aus dem guten alten Bücherregal?
Ein Blick ins Bücherregal verrät viel. Wo ist der Besitzer hingereist? Hatte er eine Harry-Potter-Phase, liest er Marcel Proust im Original oder interessiert er sich nur für „1000 ganz legale Steuertricks“? Ein Bücherregal ist mehr als ein Möbelstück, es ist ein Steckbrief. Manche lieben den Anblick so sehr, dass sie sich im Internet „Bookshelf Porn“ ansehen, „Bücherregal-Porno“ mit hübsch gefüllten Borden. Was aber passiert in Zeiten von elektronischer Literatur mit dem Möbel?
In Deutschland ist der E-Book-Markt anders als in den USA mit einem Prozent des Gesamtumsatzes im Buchhandel zwar noch klein. Aber 2011 wurden mit 4,7 Millionen Netz-Büchern doppelt so viele verkauft wie im Jahr zuvor. Sie gelten als Hoffnungsträger. 90 Prozent der Verlage wollen E-Books fest in ihr Programm nehmen. Das Medienverhalten hat sich ohnehin revolutioniert. Nicht nur Teenager sitzen mit dem Laptop vor dem laufenden Fernseher, das Smartphone liegt daneben. Elektronische Lesegeräte für Bücher sind billiger geworden.
„Billy ade“, titelte schon die „Neue Zürcher Zeitung“. Soweit ist es bei Ikea nicht. „Wir haben da eine duale Strategie“, sagt Sprecherin Annette Wolfstein. Regalklassiker Billy, weltweit mehr als 35 Millionen Mal verkauft, hat einen etwas tieferen „großen Bruder“ bekommen, zum Beispiel geeignet für Bildbände. Das klassische Bücherregal verschwindet aber nicht. „Bücher sind ja auch etwas, mit dem man sich gerne umgibt.“
Der Traditionshersteller Interlübke blickte in die Zukunft und nahm „Bookless“ („buchlos“) ins Sortiment, ein Regal- und Vitrinensystem wie eine Art moderner Setzkasten. Das Design soll das Leben mit Büchern, Medien und Lieblingsstücken neu interpretieren. Das E-Book trete bei vielen an die Stelle raumgreifender Enzyklopädien, erklärt Geschäftsführer Leo Lübke. Von einer „Miniaturisierung“ ist die Rede. Wohnen wird filigraner.
Wenn Rafael Horzon, Berliner Autor („Das weisse Buch“) und Möbelhersteller, auf die Frage nach der Zukunft des Bücherregals antwortet, klingt leise Ironie mit: Das Möbelstück demonstriere auch Bildung und Reichtum, findet er. Man denke nur an die Fotos von Schriftstellern oder Geisteswissenschaftlern: ein Foto von Marcel Reich-Ranicki, nicht vor einer mächtigen Bücherwand, sondern vor einem einzigen an die Wand genagelten E-Book-Reader. „Das macht nichts her!“
Und vor Jahren, als Internet und E-Mails in den Alltag einzogen, sei ja auch schon das papierlose Büro ausgerufen worden, erinnert sich Horzon. „Damals hatten wir große Angst, dass nun niemand mehr Regale kaufen würde. Allerdings hatten wir nicht damit gerechnet, dass in Büros nun täglich Millionen von E-Mails ausgedruckt werden, die dann abgeheftet und in Regale gestellt werden.“
Noch sei der Markt der E-Books so klein, dass er sich in der Bücherregal-Branche nicht bemerkbar mache. Horzon hat eine Vision: „Wenn in einigen Jahrzehnten tatsächlich niemand mehr Bücher, sondern nur noch einen E-Book-Reader besitzt, dann werden wir eine kleine Stele anbieten oder einen kleinen Schrein, aus massiver Bokassa-Eiche, auf Wunsch mit Roh-Diamanten verziert, in den dann dieser Reader gebettet werden kann.“
Schriftsteller Ingo Schulze („Simple Storys“) hat gerade 220 Umzugskartons mit Büchern gepackt. Er mag Papierbücher und schätzt auch das digitale Lesen, das ganze Kontinente erschließe. Aber: „Wenn es um Literatur geht, um eben jenen Roman oder jenen Gedichtband, der für Tage oder Wochen zum Begleiter wird, hätte ich Schwierigkeiten mit dem digitalen Lesen.“ Was ihm persönlich ein Bücherregal bedeutet? „Zu Hause ist ja nicht nur der Ort, an den die Rechnungen geschickt werden, zu Hause ist auch der Ort, an dem die Bücher warten.“