Grünzeug für alle: Die Renaissance der Stadtgärtner
Viersen (dpa) - Offene Gartentore statt verschlossener Vereinsmeierei: Schrittweise lösen sich die Kleingärtner von ihrem verstaubten Image. Impulse für den modernen Schrebergarten kommen dabei von der jungen Bewegung des Urban Gardenings.
Den üppigen Stauden und Rosenbüschen, den schwer beladenen Johannisbeersträuchern und in Hochbeeten prächtig gedeihenden Kohlköpfen kann der Regen nichts anhaben. „Uns Gärtnern auch nicht“, betonen die Laubenpieper der Kleingartenanlage „Bebricher Grund“ in Viersen am Niederrhein. An diesem Tag erst recht nicht: Sie stehen im Finale des Bundeswettbewerbs „Gärten im Städtebau“ - einer Art Deutscher Meisterschaft im Rennen um den besten der mehr als 15 000 Kleingartengärten der Republik.
An diesem verregneten Sommertag ist die Jury zu Gast. Sie begutachten den Lehrgarten, wo Förderschüler in Substratsäcken Kartoffeln ziehen und Kindergartenkinder für das vierwöchige Rohkostfrühstück Radieschen und Möhren ernten können. Sie staunen über kleine Oasen, wo neben Gartenzwergen Zucchini und Kräuter gedeihen, über verwunschene Paradiese mit Seerosenteich und lavendelgesäumten Wegen.
Die Viersener Kolonie sei beispielhaft für eine schrittweise Modernisierung, die das Kleingartenwesen mit seinem veralteten Image als Hort des Spießbürgertums erlebe: „Früher beschränkten sich die Idee des Gartens für viele auf den Zaun, Zierrasen und die Hollywoodschaukel“, sagt Werner Heidemann, Jurymitglied und Geschäftsführer des westfälisch-lippischen Landesverbands der Kleingärtner.
Heute sollen Kleingartenanlagen ein Erlebnispark für alle Bürger sein, betont er. Neben den privaten Parzellen entstünden dort neue Freiräume zum Spielen und Verweilen. Breite Wege und offene Pforten für Spaziergänger, begehbare Schau- und Lehrgärten stünden auch Nicht-Mitgliedern offen, man arbeite mit Schulen und Nachbarn zusammen.
Das wirkt: „Früher hatten wir Probleme mit Überalterung“, sagt Juryvorsitzender Jürgen Sheldon. Heute engagierten sich immer mehr junge Leute in den Kleingärten. „Sie wollen die Natur erleben. Es gibt Kinder, die wissen gar nicht mehr, wie ein Apfel wächst.“
Die neue Lust am Gärtnern zeigt sich längst nicht mehr nur hinter dem Gartenzaun der Kleingartenanlage. Seit die Berliner Prinzessinnengärten als erstes international prominentes Beispiel für Urban Gardening in Deutschland zeigten, dass Säen, Jäten und Ernten auch mitten in der Stadt gelingen können, entstehen in vielen Ballungsräumen ganz neue Formen des Gärtnerns.
Interkulturelle Gärten betonen dabei das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunftsländer, mobile Gemeinschaftsgärten verwandeln Industriebrachen in Gemüsegärten aus Plastikkästen und Substratsäcken, andernorts beackern Nachbarschaften vernachlässigte Grünflächen. Rund 300 solcher Projekte deutschlandweit zählt die Forschungsgesellschaft „anstiftung“, die solche Gartenprojekte erforscht und fördert. Hinzu kommen zahllose Selbsterntegärten, kleine Mietäcker, auf denen sich der Stadtmensch im Anbau versuchen darf.
„Es ist eine neue, junge Umweltbewegung mit einem höchst pragmatischen Ansatz“, erklärt Christa Müller, Urban-Gardening-Expertin und Geschäftsführerin von „anstiftung“. Die Soziologin versteht das gemeinsame Gärtnern als Antwort auf anonymer werdende Großstädte und eine immer hektischere Arbeitswelt. Das Gärtnern befriedige die Sehnsucht nach Entschleunigung und verlorener sinnlicher Erfahrung: „In der Erde wühlen, den Dreck spüren - das fehlt vielen in unserer virtuellen Gesellschaft.“ Auch reagierten die neuen Gärtner auf undurchsichtich gewordene Konsumkreisläufe, auf Verarmung der Sortenvielfalt in den Supermarktregalen und steigende Monopolmacht der Saatgutriesen.
„Den Aufwind, den das Gärtnern generell in den Städten erlebt, spüren auch die Kleingärten und modernisieren sich Schritt für Schritt“, so Müller. In Viersen - wie in dreißig weiteren Finalisten im Bundeswettbewerb - könnten solche Erneuerungsprozesse im November mit einer Medaille belohnt werden. Gegen den Mitgliederschwund hat der Verein längst gewonnen: Gab es vor fünf Jahren noch Leerstände, gebe es heute mehr Interessenten als Parzellen, erzählt man hier stolz.