Brasilien: Kicken unterm Zuckerhut
Die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 rücken näher. Von den Weltereignissen soll auch der Tourismus profitieren.
Was mag er wohl denken, der 30 Meter hohe Christus, wenn sich am frühen Morgen die Besucher in Reisebussen und auf knatternden Motorrädern Rios Pilgerberg Corcovado hinaufquälen?
Wahrscheinlich wird ihm bereits jetzt vor dem zu erwartenden Ansturm im nächsten Jahr zur Fußball-WM etwas bange. Seit 1931 blickt er von seinem 700 Meter hohen Felsen auf die Stadt hinunter und genießt die Aussicht auf die Strände von Copacabana und Ipanema, auf die Altstadt, auf den Zuckerhut und auf das Maracana-Fußballstadion, in dem am 13. Juli 2014 das WM-Endspiel ausgetragen wird.
Manchmal würde er dabei sicher ungläubig den Kopf schütteln, wenn beispielsweise das Fußballspielen am Strand verboten wird oder sich einmal mehr die Verkaufsformalitäten für den Eintritt zum Gipfel des Corcovado geändert haben. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt ihm nicht, denn schon eilen die ersten Touristen die letzten 215 Treppenstufen hinauf, um sich in Nachahmerpose mit ausgebreiteten Armen vor ihm fotografieren zu lassen oder um den besten Platz auf der kleinen Aussichtsplattform zu ergattern.
Es geht auch einfacher: Nur wenige Meter vom Shuttle-Parkplatz entfernt überbrückt ein Fahrstuhl die Höhendifferenz, und die letzten Meter zur Christus-Statue lassen sich dann mit Hilfe zweier Rolltreppen mühelos bewältigen. Christus wirkt wie ein Magnet.
74 Prozent der Brasilianer sind katholischen Glaubens, da gehört ein Besuch einfach dazu. Aber ein Foto vor einem der „Neuen Sieben Weltwunder“ ist bei ausländischen Touristen ein beliebtes Andenken, das man gern mit in die Heimat nimmt.
Wer etwas genauer hinschaut, kann von der Aussichtsplattform auch eine andere Seite Rios entdecken: Die Favelas, die sich vorwiegend an die Berghänge am Rande der drittgrößten brasilianischen Metropole drängen. Es sind die Armenviertel, einstige Tabuzonen, die jahrzehntelang von Drogengangs regiert wurden, sich jetzt aber vorsichtig dem Tourismus öffnen.
Genau in der Blickrichtung der Christus-Statue, auf einem steilen Berghang zwischen Copacabana und Botafogo, liegt die Favela Babilonia. Auch sie gehörte einst zum Herrschaftsbereich des „Dritten Kommandos“ der Drogenhändler, die die Einwohner terrorisierten. 1997, vor dem damaligen Besuch des Papstes in Rio, kam es zu einem ersten Polizeieinsatz gegen die bewaffneten Drogengangs in Babilonia, im Jahr 2009 nahm die Polizei die Favela ein. Seit einigen Jahren hat nun beispielsweise der Berliner Südamerikaspezialist Viventura eine geführte Tour durch diese Favela im Programm.
Dennoch gibt es bis zur WM in Sachen Sicherheit noch einiges zu tun. Die Cariocas sind zuversichtlich. Nicht nur für sie ist Rio noch immer die gefühlte Hauptstadt Brasiliens, obwohl die Sechs-Millionen Metropole seit 1960 offiziell auf diesen Status verzichten muss. Damals wurden in der Retortenstadt Brasilia die Regierungsgeschäfte aufgenommen.
Noch vor Rio, nämlich bis 1763, war Salvador da Bahia mehr als zwei Jahrhunderte lang die Hauptstadt der damaligen portugiesischen Kolonie. Man nannte sie aufgrund der Vielzahl der Barockkirchen, Kathedralen und Paläste sowie der überwiegend dunkelhäutigen Bevölkerung auch „das schwarze Rom“.
Noch heute gilt sie als die schwarze Metropole des Landes. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des Bundesstaats Bahia stammen von den vier bis fünf Millionen Sklaven ab, die von den Portugiesen in vier Jahrhunderten vornehmlich aus den heutigen Staaten Angola, Mosambik, Nigeria, Benin und Kongo nach Brasilien verschleppt wurden. Entrechtet und erbarmungslos ausgebeutet, gelang es ihnen dennoch über Jahrhunderte ein wenig von ihrer einstigen Heimat zu erhalten, an das sie sich klammern und so neuen Lebensmut schöpfen konnten, während sie auf Zuckerrohrplantagen und als Haussklaven schufteten. Erst 1888 beendete Brasilien diese Form der Ausbeutung.
An jeder Ecke trifft man in der mit 2,7 Millionen Einwohnern drittgrößten Stadt Brasiliens auf Zeugnisse der Sklaverei.
Die Altstadt Pelourinho, zu deutsch Pranger, erinnert an eine besonders dunkle Seite der Sklavenzeit, als schwarze Arbeiter hier öffentlich ausgepeitscht wurden. Nicht weit vom einstigen Standort des Prangers entfernt befindet sich die Kirche der Sklaven, denen der Eintritt in die prunkvollen Gotteshäuser der Weißen streng verboten war.
Hinter der Zumbi-Statue geben Capoeira-Kämpfer eine Kostprobe aus afrikanischem Kampfsport mit sehr ästhetischem Tanz.
Keine hundert Meter weiter stößt man auf die mit reichlich Blattgold verzierten Innenräume der Basilika und ihr gegenüber auf die berühmte Franziskuskirche, die mit wunderschönen Blaufliesenmalereien verziert ist.
Beide zeugen vom einstigen großen Reichtum Salvadors, der nicht nur vom Sklavenhandel her rührte, sondern auch auf die immensen Goldfunde im 18. Jahrhundert zurückgeht.