Ein Meer aus Weiß und Rosa: Kirschblüte im Valle del Jerte
Plasencia (dpa/tmn) - Wer eine atemberaubende Kirschblüte sehen will, muss nicht bis nach Japan reisen. Zwei Millionen Kirschbäume verwandeln Ende März ein einzelnes Tal der spanischen Extremadura in ein süß duftendes Blütenmeer.
Mitten im üppigen Blütenlabyrinth seines Gartens erspäht Gustavo Izquierdo Elizo im warmen Morgenlicht ein einzelnes Kirsch-Zweiglein und schaut so glücklich auf, als hätte er gerade einen verschollenen Goldschatz der Konquistadoren entdeckt. Fast ehrfürchtig wischt der alte Obstbauer sich die Finger am blauen Kittel sauber, hebt den Zweig mit der linken Hand leicht an und zeigt mit der rechten vorsichtig auf die pummeligen rosa Blüten, die sich gerade erst aus dem schützenden Knospenmantel gewagt haben. „Eine uralte Sorte“, freut sich Don Gustavo, „mein Schwager hat sie mir vergangenes Jahr geschenkt, und ich habe einen meiner ältesten Bäume damit veredelt“.
Wenn die zwei Millionen Kirschbäume im Valle del Jerte ihre Frühlingskleider anlegen und man als Besucher im weißen und rosafarbenen Meer leicht den Überblick verliert, schaut ein Kenner natürlich ganz genau hin. Und in der Tat ist die Vielfalt beachtlich: Während sich einige Bäume mit kleinen Blüten ganz in Weiß begnügen, recken andere die duftenden Köpfchen gleich als verschwenderische Blütenbüschel und in den unterschiedlichsten Rosatönen dem azurblauen Himmel entgegen.
Das Valle del Jerte im Frühling erinnert an das märchenhafte Kirschblütental von Astrid Lindgrens „Brüder Löwenherz“. Ein wahres Paradies zumindest für Obstbäume: Auf Jahrhunderte alten, sorgsam gepflegten Terrassen tupfen sie die Berghänge wie rosa und weiße Wattebäusche. Wer von Osten, also aus Richtung Madrid, ins Valle del Jerte anreist, wird dabei mit dem spektakulärsten Aha-Erlebnis belohnt. Lange Zeit führt die Straße fast schnurgerade über die karge, baumlose Hochfläche der Extremadura, über die auch tagsüber noch eine frische Brise weht. Und gerade wenn man fast schon müde wird, endet am Aussichtspunkt von Puerto de Tornavacas die Eintönigkeit abrupt: Tief eingeschnitten wie ein Canyon liegt einem das Valle del Jerte zu Füßen.
Zusammen mit der warmen Luft weht der Kirschblütenduft hinauf bis zum Mirador (Aussichtspunkt) auf 1275 Metern Höhe. 40 Kilometer weit erstreckt sich tief im Tal der Teppich aus Blüten und endet erst kurz vor den mittelalterlichen Stadttoren von Plasencia. An den höheren Berghängen, wo es auch den robustesten Kirschen zu kühl wird, leuchtet das grüne Band der Eichenwälder, die von den flachen, baumlosen Zweitausendern des Gredo-Gebirges überragt werden. Die Gipfel tragen auch Ende März noch dicke Hauben aus Schnee.
Geschützt durch die hohen Berge gedeiht die Natur im Tal in einem besonderen Mikroklima. Die Winter in den Tieflagen sind vergleichsweise mild, danach sorgen die Schmelzwasser bis in den Frühsommer hinein für üppiges Wachstum. Apropos: Das Wasser im Valle del Jerte ist eine Attraktion für sich. Überall braust und rauscht, plätschert und gurgelt es im Frühling durch künstliche Bächlein über die Obstterrassen. Ein uraltes Netz aus Wasserläufen wird gespeist von den riesigen Wasserfällen, die überall tosend durch die steilen Seitentäler hinabstürzen.
Am lautesten donnert es oberhalb des Dörfchens Navaconcejo ins Tal: Garganta de Nogaledas heißen die Fälle, die hier über drei hohe Stufen gewaltige Wassermassen ins Tal befördern und sich erst zwischen den Obstgärten beruhigen. Ein Wanderweg führt unmittelbar an den Kaskaden den Berg hinauf.
Das Valle del Jerte ist ein grandioses Wanderparadies, dennoch trifft man auf den traumhaft schönen Wegen nur selten Menschen. So streift man stundenlang allein durchs Blütenmeer, wandert durch die Wälder hinauf zu den zahlreichen Wasserfällen und Wildbächen oder über die aussichtsreichen Wege oberhalb der Baumgrenze.
Das Valle del Jerte mit seiner Kirschblüte ist den meisten Spaniern ein Begriff wie den Deutschen die Obstbaumblüte im Alten Land. Doch die meisten spanischen Besucher ziehen es vor, sich die Pracht vom Auto aus anzuschauen. Am späten Nachmittag sind die Besucher wieder weg, und in den kleinen Dörfern im Tal teilt man sich das Landidyll mit den Einheimischen und der bemerkenswerten Tierwelt.
Obwohl schon seit Römerzeiten als Handelsort beliebt, ist Plasencia mit seinen heute 40 000 Einwohnern weit weniger bekannt als andere Städte der Extremadura wie Mérida oder Cáceres. Mit der Folge, dass nur wenige Touristen die Altstadtgassen durchstreifen und die Einwohner überwiegend unter sich sind. Dabei gibt es auch in der kleinen Altstadt viel zu sehen, beispielsweise prächtige Adelspaläste der Renaissance, gleich zwei Kathedralen und eine der ältesten Weinkellereien Spaniens, in der seit dem 13. Jahrhundert Wein gekeltert wird.
Wenn die tiefstehende Sonne die Dächer und Türme Plasencias in ein goldenes Licht taucht, legt sich ein süßes Frühlingsaroma über die Stadt: Kirschblütenduft aus dem Valle del Jerte.