Finnland: Wenn im Schnee die Seele baumelt
Hier gefriert der Alltag, von Stress keine Spur mehr in der weißen, eis- und schneebedeckten Weite des Landes.
Düsseldorf. "Ich habe schon wieder einen", schreit Jukka Laitinen. Seine deutschen Besucher gratulieren artig und schauen etwas bedröppelt auf das etwa armdicke Loch im Eis unter ihnen. Zugegeben, der Barsch, den der Outdoor-Führer gerade aus dem See geangelt hat, ist alles andere als beeindruckend, aber bei seinen Gästen beißt einfach nichts an.
Der Blick richtet sich wieder nach oben und schon sind alle Fische vergessen. Denn der wahre Reichtum Finnlands liegt ganz sicher über Wasser. Wald und eine endlos weiße Weite. Die Landschaft ist atemberaubend. Wald, weiß, Wald, weiß, Wald, weiß - im Winter wenn die unzähligen Seen zugefroren sind. Wald, Wasser, Wald, Wasser, Wald, Wasser - im Sommer.
Jukka und seine Gruppe sind im Saimaa-Seengebiet, nur knapp 100 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Genauer gesagt im Nationalpark Linnansaari. Sie sitzen auf einem der unzähligen Arme der Saimaa-Seenplatte zwischen einigen der fast 1500 kleinen Inseln. Hergekommen sind sie auf Kufen über eine Schlittschuh-Straße.
Etwa 40 Kilometer Weg über das Eis, das einen halben Meter dick gefroren ist, sind vom Schnee geräumt. Nach einer Stunde legen die meisten die Rute aus der Hand. Stattdessen genießen sie lieber ganz bewusst die Landschaft.
Die perfekten Schneekristalle, die bei fast 20 Grad unter Null wie Edelsteine in der Sonne funkeln und die klare Luft von der einem beinahe schwindelig wird. Büros, Hochhäuser, Straßenbahnen, Hektik, Staub, Lärm - all’ das ist ganz weit weg. Der Alltag ist eingefroren.
Am Abend vorher hat Jukka einen Einblick in die finnische Seele gegeben. Und zwar am einzigen Ort, an dem der Finne auftaut: in der Sauna. Männer und Frauen saunieren stets getrennt. Und während die finnischen Männer zu Hause schweigend ihren selbstbewussten Frauen folgen, blühen sie bei 100 Grad richtig auf.
In der heißen Holzkammer sitzt Jukka mit fünf bärigen, tätowierten Nordmännern, die aussehen, als kämen sie gerade vom Holzfällen im tiefen, finnischen Wald. Aber sie sind Touristen. Järvi und seine Kumpels arbeiten in Helsinki und fahren nur am Wochenende raus in ihr Mökki (Ferienhaus). Es wird viel gelacht und viel gelästert.
Der aufgeschlossene Mitteleuropäer versucht natürlich den ein oder anderen Wortfetzen zu verstehen, aber das ist bei der finnischen Sprache einfach nicht machbar. Dass wir auf Englisch sofort ins Gespräch kommen, mag an der offenen, nichts verbergenden Sauna-Situation liegen, vielleicht hat aber auch das Bier etwas damit zu tun, das in Finnland zu jedem Saunagang dazugehört.
Järvi überredet schließlich sogar einen Gast, nach der Hitzephase in ein Eisloch im Dorfteich zu springen. Der Sauna-Neuling zögert kurz, kommt dann aber mit einem breiten Grinsen zurück. Er genießt nicht nur das Schulterklopfen vom nackten Nebenmann, sondern auch ein fantastisches Gefühl, das hohes Suchtpotenzial hat. Und gesund ist es noch dazu.
Im 100-Seelen-Dorf Oravi hat Jukka mit seiner Frau Anna-Luise die Firma Saimaa Holidays aufgebaut. Sie bieten Ferienhäuser am See und Zimmer in einem kleinen Hotel am Dorfeingang an. Das Touristik- Unternehmen hat sich auf Aktiv-Urlauber spezialisiert und bietet die gesamte Outdoor-Palette an: Schlittschuhfahren, Skilanglauf, Eisloch-Angeln im Winter und Kanu-Camping-Touren und Angel-Trips im Sommer.
Im Nationalpark Linnansaari gibt es insgesamt 25 feste Feuerstellen an denen gerastet und campiert werden darf. An einer von ihnen macht Jukka für seine Gäste eine Fischsuppe aus dem frischen Fang, bevor es mit dem Motorschlitten zurück geht.
Beim abendlichen Spaziergang durch Oravi und zum Seeufer kommen die Großstädter an ihre Grenzen. Alle drei Schritte bleiben sie stehen, horchen und suchen hochkonzentriert die Umgebung ab. Da war doch was, oder?
Hatte Jukka nicht erzählt es gebe auf diesem Gebiet, das größer ist als Nordrhein-Westfalen und in dem gerade einmal 200 000 Menschen leben, auch Braunbären und Wölfe? Aber es ist natürlich nichts da, nicht mal ein Elch. Die Touristen machen beim Schneestapfen soviel Lärm wie eine ganze Rentierherde. Kein Wildtier im Umkreis von Kilometern kann sie überhört haben.
Es sind ihre eigenen Geräusche, die sie in dieser ohrenbetäubenden Stille an ihren Sinnen zweifeln lassen. Und doch sind alle dankbar für diese Stress-Auszeit. Als die Urlauber am nächsten Morgen mit dem Bus zum Flughafen gebracht werden, schimpft die Fahrerin über den dichten Verkehr. Es sind ganze drei Autos vor ihr auf der Straße - alle schmunzeln über die Saimaa-Definition eines Staus.
Am Flughafen in Helsinki herrscht aufgeregtes Gewusel, Für die meisten ist das nach Tagen in der wohltuenden finnischen Einsamkeit schon zu viel. Und als sich in Düsseldorf die Türen des Flugzeugs öffnen und bei drei Grad über Null einige lässig im T-Shirt aussteigen, taut der Alltag langsam wieder auf. Doch die Seele hat im tief verschneiten Finnland neue Energie getankt.