Im Ostfriesennerz durch Seattle: Bei Regen in der Rain City

Seattle (dpa/tmn) - An 150 Tagen pro Jahr regnet es in Seattle. Auch im Hochsommer packen Besucher besser Regenklamotten ein. Passend dazu lässt sich die Stadt am besten in einem Amphibienfahrzeug erkunden - am Steuer: eine Kanone.

Die Spitze der Space Needle fädelt Wolkenfetzen auf. Flink stichelt sich Seattles Wahrzeichenturm eine ordentliche Decke zusammen, dicht und grau. Es regnet. Na endlich. Sonst kriegte man ja auch einen ganz falschen Eindruck von der Rain City, hier oben an der US-amerikanischen Westküste, am windigen Ufer des launigen Pazifiks.

Wenn eifrige Lokalpatrioten auch gern und oft beteuern, dass es drüben in Cleveland öfter tröpfelt und in Miami viel mehr schüttet, wuchern Moose und Immergrün in Seattle wohl nicht ohne Grund. Fast ein Meter Niederschlag fällt hier pro Jahr. Ohne Wasser wäre Seattle nicht was es ist. Wer schlau ist, packt sogar für einen Besuch im Hochsommer den Ostfriesennerz ein.

Kapitän Lou Scannon knöpft seinen gerade zu. Inzwischen ist der feine Niesel einem richten Platzregen gewichen. Aber für einen waschechten Seattleite gibt es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung. Nass macht Spaß. Um Lous Hals baumelt eine quietschgelbe Entenschnabel-Plastiktröte. Auf dem Kopf trägt er einen Fahrradhelm. Sein rollendes Tour-Mobil hat sechs Räder, Kulleraugen-Scheinwerfer und eine Schiffschnauze. So eine umgebaute Duck-Ente, die beim US-Militär noch DUKW hieß, ist vielleicht das beste Vehikel um Seattles Seele zu erkunden.

Erste Station ist der Pioneer Platz. Prunkstück ist der Smith Tower aus hellem Granit und Terrakottakacheln. 1914 gebaut, war er mit 159 Metern damals das vierthöchste Gebäude der Welt. Heute ist er neben dem Columbia Center mit knapp 286 Metern, der auch die wie ein Ufo auf Stelzen aussehende Space Needle (184 m) aussticht, eher ein Knirps. Wer mit Liftboy in Livree den Messingaufzug zum Balkon in die 35. Etage nach oben fährt, sieht bei schönem Wetter trotzdem die schneeweißen Spitzen der Kaskaden-Bergkette mit dem Mount Rainier am Horizont. Heute nicht.

Dicke Tropfen trommeln aufs Duck-Dach. Es geht am Seattle Art Museum vorbei, wo das bekanntestes Kunstobjekt 15 Meter hoch vor dem Eingang aufragt: Der „Hammering Man“, Mitglied einer kinetischen Skulpturenserie als Hommage an die Arbeiterbewegung von US-Bildhauer Jonathan Borofsky.

„Starbucks auf Steuerbord!“, ruft Lou plötzlich und reißt den rechten Arm hoch. „Grande!“, johlt seine Mannschaft, wie vor Tourbeginn bei jeder Filial-Sichtung abgemacht. Seattle ist immerhin Heimatstadt der Kaffeekette. Tausende von Läden gibt es weltweit, 80 sollen es in Seattle sein. Hier meint „Grande“ übrigens die mittlere Bechergröße. Klein heißt „tall“ (groß). Bei Dauerregen wie heute empfiehlt sich wohl „Venti“, die Dreiviertelliterversion. Mit einem Heißgetränk im Trockenen den Regen gemütlich abzuwarten, musste in diesen Breiten eine lukrative Geschäftsidee sein.

Die Duck rumpelt über das Kopfsteinpflaster vom Pike Place Market, dem 1907 gegründeten Markt der Stadt. Hier gibt es gratis Plastiktüten - extralang, aber schmal - für nasse Schirme im Foyer und ansonsten allerlei Obst- und Feinkosthändlern inklusive fotogener Fischverkäufer, die ihre glitschige Ware zum Kollegen an der Waagschale werfen. Was angeblich schneller geht, aber nicht immer funktioniert. In seinen elf Jahren als Fish Thrower versenkte Chris Bell - tätowiert und in orangen Gummihosen - auch schon mal einen im Kinderwagen.

Lebendige Meeresbewohner wie Haie, Seeotter und Tintenfische sind im Seattle Aquarium am Hafenpier 59 zu bestaunen oder an der Kanalschleuse Ballard Locks, wo tierliebe Ingenieure den Wanderlachsen eine Fischtreppe gebaut haben. Hinter dicken Glasfenstern kämpfen glubschäugige Fische gegen die grüntrübe Strömung. Dagegen ist Ironman-Wettschwimmen eine Plantschpartie. Wenn ein Stufensprung klappt, wird geklatscht.

Skipper Lou Scannon - was übersetzt „lose Kanone“ heißt - nimmt jetzt Kurs auf Lake Union. Das ist der innerstädtische Gletschersee zwischen Puget Sound und Lake Washington. Und es ist hoffentlich kein Witz, dass die Duck seetüchtig ist. Bevor sie sich die Bootsrampe in den See hinabstürzt, tauscht Lou den Radhelm noch fix gegen eine Art Matrosenhütchen. Sein Amphibien-Fahrzeug schwimmt wirklich. Der Regen malt hübsche Ringmuster aufs Wasser. Von einem Hausboot winkt ein alter Mann mit Kapuze.

500 von diesen schicken, schwimmenden Wohnungen gibt es in Seattle. Auf dem spitzgiebeligen grauen dort drüben, mit Veranda, dunkelgrünen Markisen und Blumenampeln wurde der Film „Schlaflos in Seattle“ mit Tom Hanks gedreht. Für 2,5 Millionen Dollar (rund 1,92 Millionen Euro) soll es neulich verkauft worden sein.

Das könnte Bill Gates aus der Portokasse bezahlen. Der zweitreichste Mann der Welt ist in Seattle geboren und aufgewachsen. Wer weiß, ob er sich woanders bei Dauersonne auch tagelang mit Highschool-Kumpel Paul Allen hinter Computern verkrochen und später Microsoft gegründet hätte.

Käpt'n Lou kramt nach dem Fahrradhelm. Mit Vollgas und einem Ruck die Bootsrampe hinauf hat die Straße seine Duck samt Insassen wieder und rollt zurück Richtung Space Needle. Hier gibt es zum Abschied einen feuchten Händedruck und einen Freud'schen Versprecher: „Das Wetter, äh, das Wasser war doch gar nicht so schlecht.“