Reise-Berichte Schweden im Miniaturformat
Dalarna ist die viertgrößte Provinz und geprägt von Wiesen, Seen, Wäldern und Bergen. Dort werden alte Traditionen gelebt.
Es ist, als habe sich die geballte Lebensfreude der ganzen Welt auf diesem Fleck vereint. Die Augen der tanzenden Menschen strahlen, aus zu Lächeln geformten Mündern tönen Gesänge und Freudenrufe. Wie ein einziges großes Gebilde bewegen sich die mehr als 20 000 Besucher des Midsommarfestes in der schwedischen Gemeinde Leksand um die 26 Meter hohe Maistange herum, Fiedler spielen traditionelle Musik, Jugendliche, Erwachsene, Kleinkinder halten sich je nach Liedsequenz an den Händen, drehen sich eingehakt im Kreis, springen vor und zurück, werfen die Arme gen Himmel, von dem die Sonne herab scheint, als wolle auch sie ihren Teil zu der Veranstaltung beitragen.
Der Platz ist ein Farbenmeer aus bunten geflochtenen Haar-Blumenkränzen, Trachten und Sommerbekleidung. Freunde tanzen mit Freunden, Großeltern mit Enkeln, Mädchen mit Jungen, Einheimische mit Fremden. Die Zeremonie ist mitreißend in allen Facetten, das Herz wird schon beim bloßen Zusehen weit. Gefeiert wird wochenlang. Die Midsommarfeier in Leksand gilt als das größte Fest Schwedens gleich nach Weihnachten.
„Damit vertreiben wir die dunkle Jahreszeit, endlich kommen das Licht und das Grün zurück. Das bedeutet für uns Fröhlichkeit“, erzählt Moderator Anders Tull, der aufgrund seines Erfahrungsschatzes „Mister Midsommar“ genannt wird. 1961 begann er mit traditionellem Volkstanz, seit 1978 leitet er die „Leksands Folksdansgroup Sweden“, die auf den Festen auftritt. Ja, es sind mehrere Feste — die Zeremonie zur Sommersonnenwende wird in Dalarna, der viertgrößten Provinz des Landes, nicht nur an einem Abend gefeiert, sondern zieht sich über mehrere Wochen, in denen sich Familien, Bekannte und Touristen zusammenfinden, um das Event gemeinsam zu begehen.
„Die Gemeinde Leksand mit ihren 15 000 Einwohnern besteht aus 94 kleinen Dörfern, die sich alle für unabhängig halten“, erklärt Touristenführerin Hanna. Die Theorien, weshalb nahezu jedes Dorf sein eigenes Midsommarfest feiert und eine individuelle Maistange aufstellt, differieren. „Womöglich wollen die Dörfer auf diese Weise sicherstellen, dass die Fiedler auch auf jedem Fest spielen können“, sagt Hanna.
Eine andere Variante besagt, dass sich die Dörfer gegenseitig bei den Vorbereitungen helfen und daher nicht alle gleichzeitig feiern wollen.
Auch das 250-Einwohner-Dorf Tällberg bereitet sich jedes Jahr mit Hingabe auf den großen Tag vor. Um die blanke hölzerne Maistange — majstång — rankt sich eine grün beblätterte Birkenzweig-Girlande, die die Sonnenkraft vom Himmel in den Boden leiten soll. Die Stangenspitze ziert ein Herz als Symbol für die Liebe.
Auch Zusammenhalt, Dreieinigkeit und Frieden finden sich als Sinnbilder an den meisten schwedischen Maistangen wieder. Außerdem wird, zum Beispiel in Form zweier gekreuzter Pfeile, das Regional-Wappen in Erinnerung an den schwedischen König Gustav I. Wasa (1496-1560) aufgegriffen.
Bis zu 250 000 Besucher kommen jährlich in das ehemalige Bauerndorf mit seinen acht Hotels, das aufgrund dessen den Spitznamen „Hotällberg“ trägt: nicht nur, um das Midsommar-Fest zu feiern, sondern auch, um beispielsweise die idyllische Atmosphäre inmitten saftig grüner Wiesen und alten Holzhäuschen vor der phänomenalen Kulisse des Siljan-Sees zu bewundern.
„Unser Dorf ist stolz auf seine Ursprünglichkeit“, sagt Tour-Guide Hans Jensen — und auch ihm sieht man das positive Gefühl deutlich an. Ein ganzes Land in einer Region Touristen kommen im Sommer wie Winter nach Dalarna, das gern als „Schweden im Miniaturformat“ bezeichnet wird.
Der Süden der rund 30 000 Quadratkilometer großen Provinz ist geprägt von offenen Wiesen, Feldern und Seen. Je weiter man in den Norden vordringt, desto dichter bewaldet ist das Gebiet, überwiegend mit Pinien, und lädt zu Outdoor-Sportarten wie Radfahren, Wandern und Kanufahren ein. Ganz im Norden erheben sich die Berge, welche die Region zu einem der größten Skigebiete Nordeuropas machen.
Dort befindet sich auch das der Sage nach kleinste Dorf Schwedens, in dem das traditionell verwurzelte Volk der Sámi lebt. Überhaupt gilt der Landstrich als einer der typischsten Schwedens. Nicht nur wegen seiner lebendigen Kultur, die auch die jungen Bewohner sorgfältig pflegen und die für viele der Inbegriff der schwedischen Volkstradition ist. Sondern auch wegen der klassisch rot gestrichenen Häuser, die romantische Akzente in dem Grün setzen. Die Farbe wird Falunrot (Faluröd) genannt — in Gedenken an das einst weltgrößte, 1992 geschlossene Kupferbergwerk in der Stadt Falun, seit 2001 Weltkulturerbe.
Zu den Ur-Symbolen Dalarnas und seiner folkloristischen Handwerkskunst gehört das rote Dala-Pferd, handverziert mit Kubitsmalerei wie verschnörkelte Blätter und Blumen. Heute hat jede Stadt der Provinz ihr eigenes Pferd in individuellen Farben. Hergestellt wird das echte „Dalahäst“ ausschließlich in der kleinen Fabrik Nils Olsson im Örtchen Nusnäs, wo Besucher den Mitarbeitern bei der Arbeit zuschauen können.
Kerstin bemalt seit mehr als 40 Jahren Holz-Rohlinge in ihrem Stil, rund 100 am Tag. Sie führt das Werk ihrer 83 Jahre alten Mutter weiter, die auch heute noch ab und zu Pferdchen dekoriert. Drei Jahre dauert es laut Produktionschef Lennard Ihrén, bis das Handwerk zuverlässig beherrscht wird. Die Zeit nehmen sich die Mitarbeiter, die jenseits der Manufaktur im ganzen Land verstreut sind. „Es gibt immer neue Interessenten“, sagt Ihrén. Immerhin gehe es um eine Tradition, die auch nach vielen Generationen nichts von ihrer Wertigkeit verliere.
Über der Gemeinde Leksand indes bricht die Nacht herein, ohne dass es am Himmel nennenswert dunkel wird. Die Grashalme, von unzähligen tanzenden Füßen platt gedrückt, erholen sich in der lauen Abendluft. Der nächste Tag ist schon zu erahnen — und mit ihm das Fest im nächsten Dorf, mit dem die Schweden wie auch Besucher aus aller Welt den Sommer feiern. Die Autorin reiste mit Unterstützung von Region Dalarna und Visit Sweden.