Tempo auf der Schiene: 20 Jahre ICE
Hamburg (dpa) - Vor 20 Jahren - am 2. Juni 1991 - fuhr zum ersten Mal offiziell ein ICE auf den Gleisen der Deutschen Bahn. Die Jungfernfahrt ging von Hamburg nach München. Heute nutzen täglich 210 000 Fahrgäste den Schnellzug - trotz mancher Kritik.
Punkt 5.53 Uhr an einem kühlen, windigen Sonntagmorgen: Im Bahnhof Hamburg-Altona springt das Ausfahrtsignal für den ICE 593 „Münchner Kindl“ auf Grün. Lokführer Harry Pfaffe schiebt den Fahrhebel nach vorn: Freie Fahrt für den Premierenzug ins Hochgeschwindigkeitszeitalter der Bahn. Genau 20 Jahre ist das jetzt her. Und der heute 81 Jahre alte Lokführer von damals denkt noch immer gern an den historischen Augenblick.
„Am Ende des Bahnsteigs gab es damals Sekt, das 'Münchner Kindl' in seiner Tracht war extra angereist, die Post hatte zur Feier des Tages eine Sonderbriefmarke herausgegeben und es gab extra eine Telefonkarte“, erinnert sich Pfaffe. Drei Tage vor der Premierenfahrt am 2. Juni 1991 hatte er bei einer Festveranstaltung auf dem Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe von Bundespräsident Richard von Weizsäcker symbolisch die Schlüssel für den ICE bekommen. Als sich der Zug dann unter dem Jubel der Zuschauer am Bahnsteig in Bewegung setzte, begann für den Lokführer Routinearbeit.
„Aufgeregt war ich überhaupt nicht“, versichert der Mann, der seinen Beruf von der Pike auf gelernt und schon Dampflokomotiven gefahren hatte. „40 Jahre lang war ich auf der Schiene.“ Knapp ein Jahr vor der ersten offiziellen Fahrt hatte Pfaffe die Prüfung absolviert, bis Anfang März lief anschließend der Probebetrieb.
Die Eröffnungsfahrt über Hannover, Göttingen, Kassel-Wilhelmshöhe, Fulda, Frankfurt, Mannheim, Stuttgart, Ulm und Augsburg bis nach München verlief reibungslos. Pünktlich um 13.20 Uhr kam der ICE 593 an. „"Es war eine Bilderbuchfahrt“, sagt Pfaffe. Gut vier Jahre später ging er in den Ruhestand. Jetzt ist er „ein Reisender wie jeder andere auch“, wenn er gelegentlich seine Söhne in Heilbronn oder in Kopenhagen besucht.
Mehr als 210 000 Fahrgäste nutzen nach Angaben der Bahn inzwischen täglich das bundesweite ICE-Netz. Seit Pfaffes Premierenfahrt hat die ICE-Flotte 1,4 Millionen Kilometer zurückgelegt. Auf insgesamt 1200 Kilometer Neu- oder Ausbaustrecke können Geschwindigkeiten von 230 Stundenkilometern und mehr gefahren werden, auf den Neubaustrecken Köln/Rhein-Main und Nürnberg-Ingolstadt fahren die ICE-Züge der dritten Generation sogar 300 Stundenkilometer.
Längst ist der ICE nicht nur auf dem deutschen Hochgeschwindigkeitsnetz unterwegs, sondern fährt in Kooperation mit anderen europäischen Bahnen in sechs Nachbarländern: Schweiz, Frankreich, Belgien, Niederlande, Dänemark und Österreich. Im vergangenen Jahr hat er zum ersten Mal das europäische Festland verlassen und wurde in Anwesenheit zahlreicher prominenter Vertreter in London vorgestellt.
Auch wenn die Einführung des ICE selbst von Bahn-Kritikern insgesamt als Erfolgsstory gesehen wird, blieb seine Geschichte von Unglücken nicht verschont. So entgleiste am 3. Juni 1998 bei Eschede in Niedersachsen der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“. 101 Menschen kamen ums Leben. Auslöser war der Bruch eines verschlissenen und defekten Radreifens.
Doch trotz einiger weiterer, weniger tragischer Rückschläge und technischer Pannen sieht auch der Fahrgastverband ProBahn den Einstieg in das Hochgeschwindigkeitszeitalter vor 20 Jahren als damals „lange überfällig“. Dennoch: „Bei allen ICEs hat man die Gepäckfrage nicht genügend berücksichtigt“, sagt ProBahn-Vorsitzender Karl-Peter Naumann. „Was fehlt, ist zum Beispiel auch die Mitnahmemöglichkeit für Fahrräder.“ Wünschenswert sei auch eine Möglichkeit, auf nichtelektrifizierten Strecken Dieselloks vor ICE-Züge zu spannen. Weder Westerland noch Oberstdorf seien bislang per ICE zu erreichen.
Die Deutsche Bahn will Harry Pfaffe am Jubiläumstag einen Präsentkorb schenken. Er selbst will den 2. Juni nicht besonders feiern. „Wir alle sind ersetzbar“, sagt er, winkt bescheiden ab und blickt zufrieden auf die kleine Sammlung von Modellbahn-Lokomotiven in seiner Wohnung in Hamburg-Schnelsen. „Alles Loktypen, die ich mal gefahren habe.“