Wandern Wandern ist Wellness für die Seele
Aktivurlaub hat sich längst etabliert. Doch hinter der Bewegung an frischer Luft steckt mehr: Die Augen sehen Grün und Entspannung ist garantiert.
Ziehen in den Waden, aber im Kopf total entspannt. Helmut ist seit vier Tagen auf dem Westerwaldsteig von Bad Hönningen am Rhein nach Herborn in Hessen unterwegs, sieht nichts als Bäume. Nur abends verlässt der 68-Jährige den Wanderpfad im Wald, um sein Zelt auf einem Campingplatz oder einfach am Rand einer Weide aufzuschlagen. Rund 40 Kilometer marschiert er jeden Tag, am Ende der Woche werden es 290 sein. Die Strecke ist einsam, um Wasser und etwas zu essen zu bekommen, klingelt er bei Bauern oder sucht einen Supermarkt. Dafür muss er den beschilderten Wanderpfad verlassen und Kilometer weit zum nächsten Ort gehen — und natürlich auch wieder zurück.
Immer weiter trägt der drahtige Mann seinen 17 Kilogramm schweren Rucksack durch den Wald, stützt sich auf einen selbstgeschnitzten Stock, wenn es nass und rutschig ist. „Ich habe während der gesamten Woche nur eine einzige Wanderin getroffen“, erzählt der Rentner. Sonst war er immer allein. Mit sich und seinen Gedanken. Mit sich und der Natur. Genervt, gelangweilt? „Herrlich.“ Hier greift, was Psychologen längst wissen: In der Natur lässt es sich am besten abschalten, Wandern ist Wellness für die Seele. Wer sich darauf einlassen kann, erlebt ein ganz natürliches Wohlgefühl. Beruhigend dabei: Jeden Tag das gleiche Bild um sich herum zu haben.
Die Blätter der hohen Bäume rascheln im Wind, es ist schattig auf dem schmalen Weg. Einzelne Steine, Wurzeln, kleine Pfützen fordern Konzentration auf den Weg. Rechts und links Farne und Sträucher, Brennnesseln und ab und zu Brombeersträucher. Nur noch Grün ringsum, Vögel zwitschern in den Baumkronen, ein quer liegender Stamm lädt zur nächsten Rast ein. Rucksack absetzen, Beine ausstrecken — die Ruhe genießen. Und lauschen. Die Natur hat ihre ganz eigenen Geräusche, Gerüche, Farben und Formen.
Plötzlich sieht Helmut eine einzelne kleine Blume versteckt im Gestrüpp, leuchtend gelb sticht sie hervor. Als sein Blick weiter durchs Unterholz schweift, entdeckt er glitzernde Tautropfen in einem Spinnennetz. Sie funkeln und werfen das Sonnenlicht zurück, die Spinne selbst wartet in der Mitte auf Beute. Die Natur zu beobachten wirkt Wunder auf Menschen, die den ganzen Tag in flimmernde Monitore gucken.
Grün wirkt beruhigend, weckt archaische Kräfte. Ursprünglich ist die Menschheit naturverbunden. Das Gefühl von Freiheit beginnt mit dem Weiten der Lungenflügel beim ersten tiefen Atemzug an der frischen Luft. Wer von Stress geplagt seinem Job entfliehen will, muss keine Woche wegfliegen. Entspannung findet die überlastete Seele viel eher in der Natur, als im Liegestuhl am Strand. Sich von natürlichen Gegebenheiten wie Helligkeit und Dunkelheit leiten zu lassen, anstatt von Terminkalender und Uhr, tut ein übriges.
Bei vielen Menschen zeigt die Natur innerhalb kürzester Zeit beruhigende Wirkung. Glücksgefühle, eine Etappe oder die ganze Strecke geschafft zu haben, überwiegen jeden muskulären Schmerz. Endorphine, die kleinen hormonellen Glücksbringer, lösen trotz müder Oberschenkel und von Gepäck belasteten Schultern Wohlgefühl aus.
Immer mehr Naturfreunde entdecken Wandern als wichtigen Ausgleich für sich. Helmut hat erst mit 54 Jahren damit angefangen, doch seitdem zieht er konsequent ein- bis zweimal pro Jahr los. Vor jeder Tour unternimmt der Rentner Probeläufe mit Gepäck und Schuhen. Damit es weder böse Gewichts-Überraschungen noch Blasen gibt. Alles muss perfekt verstaut sein, die Socken optimal in den Schuhen sitzen. „Es ist wichtig, sich an die Belastung zu gewöhnen“, weiß er aus Erfahrung.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hat Helmut noch immer keinen Campingplatz gefunden. Laut seiner Wanderkarte sind es noch rund drei Kilometer durch den Wald bis zur Unterkunft. „Das schaff’ ich nicht mehr“, gesteht er sich ein. Immerhin hat er an diesem Tag schon mehr als 40 Kilometer in den Beinen. In der Nähe findet er eine Wiese, drei Pferde grasen am anderen Ende. Gleich hinter dem Zaun schlägt Helmut sein Zelt auf, sein Kompass verrät ihm, wo am nächsten Morgen die Sonne aufgehen wird.
Im letzten Licht sitzt er auf einem Stein, die Socken hängen an einer kurzen Leine neben ihm am Zelt. Auf einen kleinen Block schreibt er seine Erlebnisse des Tages nieder. „Wo ich eine Abzweigung verpasst habe oder worüber ich gestolpert bin“, sagt er amüsiert. Sein Wandertagebuch enthält die Erkenntnis, dass es eben nicht jeden Tag das gleiche Bild ist, durch den Wald zu wandern.
Helmut ist es jetzt egal, dass es weder Bad, Bett noch Dusche gibt. Er ist einfach zufrieden. In seinem kleinen Iglu-Zelt hat er Rucksack, Taschenlampe und Handy griffbereit, die Schuhe stehen zum Lüften draußen. Als es dunkel wird, kommen ihm Zweifel, ob ein Zelt am Waldrand neben einer Pferdekoppel die richtige Entscheidung war, es nicht doch gefährlich sein könnte. Doch der Wanderer ist viel zu müde, schläft über das Knistern und Knacken ringsum seine Behausung aus dünnem Stoff bald tief und fest. „Nur wenn das Käuzchen mitten in der Nacht ruft, dann ist es schon ein bisschen unheimlich.“
Am nächsten Morgen wecken ihn die Pferde, die über den Zaun hinweg an seinem Zelt schnauben. Tautropfen glitzern auf den Grashalmen, um richtig wach zu werden, gibt es für Helmut Tautreten á la Kneipp. Frühstück ist ebenso Fehlanzeige wie Stunden zuvor das Abendessen. Helmut zieht sich an, reibt sich mit nassem Gras Hände und Gesicht ab. Er packt Rucksack und Zelt zusammen, schnürt seine Schuhe und wandert weiter — bis zum nächsten Wegweiser, der in Richtung eines Dorfes zeigt, in dem es dann einen Supermarkt und Frühstück beim Bäcker gibt.