Wann sind wir da? - Wandern mit Kindern in der Surselva

Waltensburg (dpa/tmn) — „Wie lange dauert es noch?“ Diese Frage kennen Eltern vom Autofahren - und auch vom Wandern. Erwachsene und Kinder passen da einfach nicht zusammen, sagen Wissenschaftler.

Und doch kann es funktionieren. Ein Selbstversuch in der Schweiz.

Millionen Deutsche wandern. Der Deutsche Wanderverband spricht von einem Trend, der das ganze Land quer durch alle Regionen und Altersgruppen erfasse. Wirklich ganz Deutschland? Nein, ein Teil der Gesellschaft widersetzt sich hartnäckig: Den Kinderwagen hat er hinter sich, den Berufseinstieg noch weit vor sich, und sein Kennzeichen ist die Frage: „Wann sind wir endlich da?“ Dass es auch anders geht, zeigt ein Urlaub in der Schweizer Region Surselva.

Eben noch hat sich Jan mit seinen zehn Jahren die steile Asphaltstraße durch das Schweizer Bergdorf Waltensburg hoch geschleppt und gemault. Bis Jans Mutter auf eine kleine Holzbank am Rande der Ortschaft gezeigt hat: „Lasst uns eine Pause machen.“ Einige Schlucke Wasser und eine Schokoladenwaffel genügen — und schon ist Jan wieder fit. Während seine Eltern noch den Blick auf wilde Blumen, Dörfer und schneebedeckte Berge genießen und seine Schwester Svenja ein paar Apfelstücke knabbert, springt der Viertklässler auf: „Wann gehen wir endlich weiter?“

Jan ist mit seiner Familie zu Gast im Kanton Graubünden, genauer in der Surselva. Am wilden Rhein sind Jan und Svenja schon am Vortag entlang gelaufen. Die schön geschwungene Schlucht, die sich der aufgestaute Fluss im Laufe der Jahrhunderte durch die Schuttmassen gebahnt hat, finden auch die Kinder imposant. „Hier kann man toll Kajak fahren“, stellt Jan fachmännisch fest. Man kann auch Steine von langen Hängebrücken ins tosende Wasser werfen oder Steintürme am Ufer aufbauen. Oder mit etwas Glück und Geduld Gold finden.

Das Goldwaschen bietet Surselva Tourismus jeden Sommer für Kinder und Jugendliche an. Allerdings nicht am Rhein, sondern an einem seiner Zuflüsse auf der anderen Talseite in Obersaxen. Ein Programmpunkt, der mindestens genauso viel Ausdauer erfordert wie eine Wanderung. Spannender finden die Kinder das Goldschürfen allemal. „Wie lange noch?“, fragt Svenja auf dem Rückweg.

Den Natursoziologen Rainer Braemer überraschen solche Reaktionen nicht. Jahrelang hat er an der Universität Marburg das Naturinteresse und Wanderverhalten von Kindern und Jugendlichen untersucht. Sein Fazit: „Das rhythmische Wandern ist nichts für Kinder, sie haben ganz andere Interessen als ihre Eltern.“ Weshalb das Familienwandern ein konfliktträchtiges Konstrukt sei, bei dem sich eine Seite immer anpassen muss: „Erwachsene lieben das Meditative, die Entspannung und die Aussicht.“ Kinder schauen dagegen nur selten in die Ferne: Sie wollen lieber klettern, durch das Dickicht streifen, am Wasser stehen bleiben und spielen.

Das tun auch Svenja und Jan auf dem fünf Kilometer langen Weg von Waltensburg nach Brigels. Sie erfrischen sich an einer Tränke, bespritzen sich mit Wasser und überqueren einen kleinen Bergbach. Dabei ist es jedes Mal so, als ob das Quellwasser Zauberkräfte besäße: Während Svenja kurz zuvor noch getragen werden wollte, hat die Achtjährige nun wieder Kraft, Wasserfontänen auszuspucken.

Das Ziel an diesem Tag ist die Sesselbahn, die vom Brigelser Badesee hinauf führt. Zwar geht es nicht bis ganz zu den schneebedeckten Gipfeln, die Jan schon von der Ferienwohnung auf der anderen Talseite bewundert hat. Aber immerhin 500 Meter hoch auf den Crest Falla, wo Jan ein Gipfelstürmerfoto für seine Klassenkameraden schießt. Das Fotografieren unterwegs spornt auch Svenja immer wieder an. Aber lieber als grasgrüne Gipfel fotografiert sie die zotteligen braunen Rinder auf der Bergwiese oder selbst gepflückte bunte Blumen.