Wandern im wilden Kaukasus - Der Berg Kasbek in Georgien
Stepanzminda (dpa/tmn) - Als Prometheus in den Kaukasus kam und dort an den Berg Kasbek gekettet wurde, gab es noch keine Georgische Heerstraße. Nicht, dass Prometheus die Verkehrsverbindung gebraucht hätte.
Zeus ließ den Titanen der Sage nach an einen Felsen ketten, weil dieser das Feuer aus dem Himmel gestohlen hatte. Ein Adler sollte ihm zur Strafe täglich die immer wieder nachwachsende Leber aus dem Leib reißen. Dieses Schicksal muss kein Reisender fürchten, der sich heute auf den Weg macht in den wilden Norden Georgiens an der Grenze zu Russland.
Über die historische Georgische Heerstraße führt die Route aus der Hauptstadt Tiflis in die karge Gebirgswelt des Großen Kaukasus. Die gegenwärtige Fernstraße S-3 ist gewunden und schwer einsehbar, trotzdem setzt der Fahrer zu waghalsigen Überholmanövern an. Doch egal, wie schnell das Auto fährt - und es rast ununterbrochen -, die Bergmassive sind so gewaltig, dass sie nur ganz langsam vorbeiziehen.
Einst wurden auf der Heerstraße Truppen bewegt. Heute sind vor allem Waren unterwegs, in Lastern, die sich kilometerlang vor der Grenze aufstauen. Und die Straße bringt Reisende in dieses für den Tourismus immer noch recht spärlich erschlossene Gebiet auf der Schwelle zwischen Europa und Asien. Sie kommen wegen der rauen Landschaft und der gastfreundlichen Leute.
Gefährlich ist es hier nicht, Georgien ist ein friedliches Land. Bloß links der alten Heerstraße, gleich hinter den Dreitausendern, liegt die abtrünnige Republik Südossetien, die nicht unter Kontrolle der georgischen Regierung steht. Das Territorium ist für Ausländer tabu. Doch mein Ziel ist ohnehin ein anderes.
Hinter dem Ort Stepanzminda, nach etwa drei Stunden Fahrt, erhebt sich der schneebedeckte Kasbek, ein 5047 Meter hoher Vulkan. Nur wenige Berge im Kaukasus sind höher. Wie eine himmlische Majestät scheint der Kasbek über das Hochtal zu wachen, gekleidet in Gletschereis.
Bergführer Levan Kirikashvili, angeheuert für eine Besteigung des Kasbek, begrüßt einen auf dem kleinen Hauptplatz von Stepanzminda. Der 37-Jährige hat die kräftige Statur und ernste Mimik eines Mannes, der Probleme auf seine Art löst. Nur das Nötigste sagt er: „Morgen um 8.00 Uhr geht es los.“ Das scheint als Information für den heutigen Tag zu genügen. Dann verschwindet Levan auch schon wieder.
Zeit also, sich Stepanzminda anzuschauen. Das Dorf liegt zwischen ausgeprägten Bergflanken. Lange hieß es Qasbegi, benannt nach dem georgischen Schriftsteller Aleksandre Qasbegi, der hier geboren wurde. Eine Statue des Mannes steht nahe des Terek-Flusses. Das Ortsbild ist von einfachen Häusern geprägt. Viele Besucher übernachten bei einer georgischen Familie, die ein Zimmer ihres Hauses an Gäste vermietet. Die Gastgeberin der Pension, Typ fürsorgliche Großmutter, spricht überhaupt kein Englisch, wartet aber mit einer Vielzahl rustikaler Köstlichkeiten auf: Suppe, Fleischspieße, Hartkäse, Salat, Fladenbrot, Gulasch.
Wer hier in die Region Qasbegi kommt, trifft eher nicht den typischen Touristen. Es ist vielmehr eine schöne Mischung aus Wanderern mit Sehnsucht nach exotischen Orten, weit herumgekommenen Rundreiseprofis und Abenteurern. Da ist zum Beispiel der Brite Edward Gill, der mit seinem Motorrad auf dem Weg nach Zentralasien in Richtung Kaspisches Meer unterwegs ist.
Als Tagesausflug zur Akklimatisierung bietet sich eine Wanderung hinauf zur berühmten Gergetier Dreifaltigkeitskirche an. Sie thront in 2170 Metern über dem Dorf und wurde bereits im 14. Jahrhundert gebaut. Eine ungeteerte Straße und ein steiler Pfad durch den Wald führen hinauf. Viele Jahrhunderte barg die Kirche eine bedeutende Reliquie: das Weinrebenkreuz, Schatz der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche. Man brachte es hier in die abgelegenen Berge, um es vor Eroberern zu schützen.
Seine exponierte Lage macht das Gotteshaus so sehenswert. Wer noch ein paar Höhenmeter weiter aufsteigt und die Ruhe dort aushält, legt sich am besten ins Gras und verfolgt die Schatten, die über die Wiesen, die Kirche und das Bergmassiv auf der anderen Talseite ziehen. Eine Aussicht von poetischer Schönheit. Klare und milde Luft, sanftes Licht auf ungezähmten Bergen.
Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang strahlt der Kasbek im Morgenlicht. Der Bergführer holt einen ab, es geht mit dem Auto hinauf zur Kirche. Oben warten Pferde, die das Gepäck bis zu einer ehemaligen meteorologischen Station bringen. Sie liegt auf etwa 3600 Metern und ist sozusagen das Basislager für eine Besteigung des Kasbek. Berghütte würde man in den Alpen sagen, aber das weckt Assoziationen, die sich als falsch erweisen.
Bergführer sind nicht gerade als sonderlich redselig bekannt. Ihr Beruf bringt es mit sich, dass sie kurze, präzise Anweisungen geben müssen, denn Fehler werden im Gebirge manchmal nicht verziehen. Und georgische Bergführer können offenbar als besonders schweigsame Vertreter ihrer Zunft gelten. Levan jedenfalls stellt vor dem Aufbruch an diesem Morgen genau eine, wenn auch nicht unwichtige Frage: „Hast du Wasser?“ Ja, Wasser ist dabei.
Der Bergpfad macht schnell einige Höhenmeter gut. In die Hitze, die gegen Mittag aus den Wiesen aufsteigt, mischt sich bald kühle Hochgebirgsluft. Der Weg führt über einen Wildbach. Levan hilft einem - mittlerweile ohne T-Shirt, aber weiterhin wortlos - über die nassen Steine. Dann ist die Gletscherzunge erreicht, die sich von den höheren Lagen des Kasbek hinabzieht. Auf dem Eis liegt kein Schnee, der tödliche Spalten verdecken könnte. Trotzdem wäre nach den europäischen Sicherheitsstandards nun Zeit zum Anseilen, wenigstens aber für Steigeisen an den Stiefeln. Levan reichen in diesem Terrain Stöcke und abgelaufene Turnschuhe.
Die letzten Meter zur Hütte führen durch eine Geröllwüste. Büsche und Bäume wachsen in dieser Höhe nicht mehr. Die Herberge, die für die nächsten zwei Nächte Schlafplatz und Wohnort ist, hat genau den Charme der verlassenen Forschungsstation, die das Haus tatsächlich auch ist. Eine gemütliche Stube mit Kamin, sauber gepflegte Matratzenlager, ein frohsinniger Hüttenwirt: Diese Dinge gibt es auf der Station nicht - stattdessen funzeliges Licht, schmutzige Schlafräume und einen zugigen Flur.
Interessant sind die Gäste, die sich eingefunden haben. Die meisten wollen auf den Gipfel. Am ersten Abend sitzen im Gemeinschaftsraum zwei junge Norweger, von denen einer bald höhenkrank wird, eine Gruppe russischer Bergsteiger mit wettergegerbten Gesichtern und ein ungarischer Vater mit seiner Tochter. Zwei israelische Frauen, in einer Gruppe mit Guide unterwegs, spielen Gitarre und singen, während das Licht vor dem Fenster schwindet. Die Rumänen sind ohne Führer gekommen - und fast ohne Essen. Sie bitten um Gaben. An diesem Abend ist die Welt versammelt in einer Hütte in den georgischen Bergen.
Die Gäste auf der Station eint, dass alle auf passende Bedingungen für die nächtliche Gipfelbesteigung warten. In der ersten Nacht stürmt es, Aufstieg so gut wie unmöglich. Oder man müsste jedenfalls halbwegs lebensmüde sein. Ein Bergsteiger aus Russland, erzählt einer, sei morgens im Sturm praktisch auf allen vieren auf den Gipfel gekrochen. Dieser Mann, weiß ein anderer, habe aber auch schon auf dem Gipfel des Mount Everest gestanden. Anerkennendes Nicken.
In der letzen Nacht am Berg stimmt Levan dem Aufbruch zu, eine Stunde nach Mitternacht geht es los. Anfangs sieht das Wetter gut aus: Sterne am Himmel, kaum Wind. Die Stirnlampen leuchten in der Nacht. Zwei Stunden führt die Route entlang der Gletscherzunge bergauf, Levan verfolgt den Kurs per GPS-Gerät. Doch je näher der Gletscher kommt, der zum Sattel westlich des Gipfels führt, umso lauter wird das Grollen hinter dem Bergrücken. Dann zieht das Unwetter über den Kamm und ist plötzlich ganz nah. Viel zu nah.
Der Donner zerreißt die Stille der Nacht wie das Machtwort eines zornigen Gottes, Blitze zucken durch die Düsternis. Heftiger Schneefall setzt ein. Die Szenerie wirkt so, als brause die Natur auf im Angesicht eines titantischen Kampfes höherer Wesen - die griechische Mythologie lässt grüßen. Doch es sind nur Winde und Luftschichten, die sich in den wilden Bergen des Hohen Kaukasus nicht bändigen lassen. Der Kasbek verweigert uns einen Besuch auf dem Gipfel, auch in dieser Nacht. „Los, wir kehren um“, sagt Levan. Zum ersten Mal, scheint es, liegt in der Wortkargheit des Georgiers etwas Versöhnliches.
Ungefähr 3300 Höhenmeter tiefer strömt die kaukasische Sommerhitze durchs Tal. Stepanzminda bietet Gelegenheit, sich von den alpinen Strapazen und Entbehrungen des Lagerlebens zu erholen, zum Beispiel im Café „5047“. Modische Bedienungen, Loungemusik, hippe Einrichtung, ein überraschend akzeptabler Kaffee. Dass die georgische Jugend den Lifestyle europäischer Großstädte sucht, merkt man sogar am Fuße des Kasbek. Georgien, ein Land im Aufbruch. Man müsste noch einmal wiederkommen und schauen, was sich getan hat. Der Kasbek wird warten - und sich dann vielleicht gnädig zeigen.