Eurovision-Song-Contest-2016 Der Schuldige für Deutschlands ESC-Desaster
Nach dem vorhersehbaren Debakel des Manga-Mädchens Jamie-Lee hat Deutschland mindestens so viele ESC-Sachverständige wie Fußballbundestrainer. Glücklicherweise steht der Schuldige ja jedes Jahr schon vorher fest: Es ist Thomas Schreiber, der Unterhaltungskoordinator der ARD.
Stockholm/Hamburg. Irgendwer wird auf der nächsten ARD-Intendantensitzung mit Sicherheit die Frage stellen, ob Thomas Schreiber eigentlich noch der Richtige ist. Für den Job, für eine ARD-Aufgabe im Allgemeinen und für den Eurovision Song Contest im Besonderen. Das kennt der 56-Jährige gar nicht anders. Was auch immer Schreiber anpackt, ist im Ergebnis und vom Ansatz her anders als das Meiste, was sie bei der ARD sonst so zustande bringen. Dazu gehört auch der ESC, den Schreiber als „ARD-Unterhaltungskoordinator“ verantwortet.
Da beginnt das Problem: Das Amt heißt nicht „Chef“, sondern „Koordinator“. Und es ist nicht mehr als ein Nebenjob auf dem Papier der ARD-Organisation. Schreiber ist so viel Unterhaltungskoordinator wie WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn (was praktisch kein Mensch weiß) nebenamtlich für die kompletten Fernsehfilme der ARD zuständig ist. Im Hauptberuf ist Schreiber lediglich Abteilungsleiter beim NDR. Schon allein das ist innerhalb der ARD, wo nichts so viel zählt wie die Hierarchie, eine gefährliche Konstruktion.
Denn Schreiber gilt einigen der ihm übergeordneten Hierarchen mindestens als „unseriös“. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die ARD — wie jede Hierarchie — ein eigenes Bedeutungswörterbuch benutzt: Sie übersetzt „Zweifel“ mit „Verrat“. Kreativität gilt per se als Insubordination. Und das Suchen nach Erfolgskonzepten als „unseriös“, zumal wenn man wie Thomas Schreiber auch außerhalb des Hauses danach sucht. „Unseriös“ ist vor allem alles, was sich nicht um Hierarchien schert oder vom Dienstweg abweicht.
Als Til Schweiger beschloss, seinen jüngsten NDR-„Tatort“ mit einem Überfall auf die „Tagesschau“-Redaktion zu beginnen, wunderte es in der etwas ehrpusseligen Redaktion niemanden, dass laut „Bild“ Thomas Schreiber die Aufgabe übernahm, Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers davon zu überzeugen, mitzuspielen. Die Verwunderung blieb aber nicht aus, weil die Ansprache tatsächlich naheliegend war (Schreiber hatte Rakers beim ESC 2011 in Düsseldorf als Moderatorin eingesetzt), sondern weil da wieder der Mann fürs Unseriöse durchschien.
Entsprechend groß war der Aufschrei, als Schreiber für den Eurovision Song Contest 2010 den ARD-Schreck Stefan Raab samt der Produktionsfirma Brainpool ins öffentlich-rechtliche Boot holte. Dass dabei Lena entdeckt, der ESC gewonnen, im Nachfolgejahr in Düsseldorf ausgetragen und Schreiber auch noch als Produktionsleiter mit einem Preis dafür ausgezeichnet wurde — dafür mussten sie ihn in der ARD loben. Vor allem das werden ihm einige dort nie verzeihen.
Bei etlichen Medien-Journalisten gilt Schreiber wahlweise als völlig überschätzter Schaumschläger oder als der verhinderte Darth Vader der ARD, der mit einer gehörigen Portion Eitelkeit den gebührenfinanzierten Erfolgs-Anschluss ans Privatfernsehen sucht. Das hindert sie nicht, anzuerkennen: Ohne Schreiber wäre der ESC in Deutschland wohl überhaupt nicht mehr auf die Beine gekommen. Aber ohne Stefan Raab scheinen es Schreiber und Brainpool-Boss Jörg Grabosch, der weiter als Produzent der deutschen ESC-Beiträge im Boot ist, auch nicht hinzubekommen. 2012 erreichte Roman Lob (Song: Standing Still) in Baku noch einen sehr ordentlichen achten Platz. Damit endete der kurze deutsche Frühling des ESC bereits wieder: 2013 stürzte der deutsche Beitrag „Cascada“ (Song: Glorious) auf den 21. Platz. Dann 2014 „Elaiza“ (Song: Is It Right) auf Platz 18. Im vergangenen Jahr dann Ann Sophie Dürrmeyer (Song: Black Smoke) nach dem vergeigten Vorentscheid mit Andreas Kümmert auf dem letzten Platz. Und in diesem Jahr nun das Manga-Mädchen.
Am Morgen nach dem Desaster kommentierte ein Nutzer auf der offiziellen Eurovisions-Seite: „Wann zieht Herr Schreiber nun endlich die Konsequenzen aus seinen Misserfolgen. Dieser Mensch ist für den deutschen ESC nicht länger tragbar.“ Eine in der Nacht in Stockholm geplante deutsche Pressekonferenz wurde abgesagt. Stattdessen gab es eine dürre Erklärung, in der Schreiber der etwas undiplomatische Satz herausrutschte: „International und beim Publikum in allen Altersschichten ist es offenbar eher auf Unverständnis gestoßen, dass ein Manga-Mädchen aus Deutschland antritt.“
Zur Erinnerung: Wäre es nach Thomas Schreiber gegangen, wäre das alles nicht passiert. Der Mann treibt sich aus gutem Grund das halbe Jahr in verschwiegenen Hinterzimmern herum, so zum Beispiel immer wieder mit den deutschen Musik-Bossen am Rande der „Echo“-Preisverleihung, weil der ESC eine möglichst breite Basis braucht. Im vergangenen Jahr präsentierte Schreiber (allerdings in der ihm eigenen Art) eine überraschende Lösung: Schluss mit den Castingshow-Vorentscheiden, die nicht mehr funktionieren, stattdessen sollte Xavier Naidoo es machen.
Die Knaller-Nachricht tat ihre Wirkung. Das ganze Land diskutierte plötzlich wieder über den ESC, das Auswahlverfahren und den deutschen Beitrag. Naidoo wurden seine teils kruden Texte und seine wirre Nähe zur rechtsextremen „Reichsbürgerbewegung“ angelastet — eigentlich eine perfekte Publicity-Situation. Was wenigstens ein bisschen umstritten ist, ist auch garantiert interessiert. Im ARD-Wörterbuch hat „umstritten“ allerdings die Bedeutung „untragbar“. Um mit solchen Ereignislagen fertig zu werden, braucht man Leute, die sich nicht scheuen, ihre gesammelte Feigheit öffentlich als „Besonnenheit“ zu verkaufen. Eine ideale Aufgabe für den Programmdirektor der ARD, Volker Herres.
Herres ließ via „Welt am Sonntag“ wissen, er hätte es begrüßt, „wenn diese Diskussion ARD-intern hätte geführt werden können, bevor mit der Nominierung Fakten geschaffen wurden. So ist das alles sehr unglücklich gelaufen.“ Und dann trat Herres seinem Unterhaltungskoordinator beidbeinig in den Rücken: „Xavier Naidoo hat mehrfach Äußerungen getätigt, die man nicht gutheißen kann und missbilligen muss. Ob ihn das als begnadeten Künstler, der er zweifelsohne auch ist, für eine Teilnahme am ESC disqualifiziert, ist eine Frage, die man kontrovers diskutieren kann und muss.“
Das war’s. Am 21. November zog der NDR die Nominierung zurück und ließ nun seinerseits Naidoo blamiert im Regen stehen, um sich an die Vorbereitung des nächsten deutschen ESC-Desasters zu begeben. Womit der Schuldige wieder einmal frühzeitig feststand. Das ist für die Verantwortlichen einfach praktischer so. Nur ändert es nichts an den Tatsachen: So lange die ARD nicht bereit ist, Thomas Schreiber den ESC erfolgreich machen zu lassen, so lange wird er es auch nicht wieder werden.
Das hat viele Gründe. Der wichtigste ist: Deutsche Popmusik ist international nicht sonderlich konkurrenzfähig. Beim ESC entscheiden aber nicht die Deutschen über den deutschen Beitrag, sondern die anderen. Hat man nicht gerade einen Glückskeks erwischt, auf dessen Zettel „Lena“ steht, ist man ohne Reklame-Tourneen und massive Öffentlichkeitsarbeit mit gecasteten Nobodys im europäischen Ausland (fast) chancenlos.
Auch das vermeintliche Privileg, als einer der „Big Five“-ESC-Finanziers einen direkten Finalplatz zu haben, könnte in Wahrheit ein Nachteil sein: Es fehlt die Teilnahme in einem Semi-Finale, um mehr Aufmerksamkeit für Künstler und Song zu erzeugen. Es gibt wenig, was Thomas Schreiber noch nicht versucht hat, seit er beim NDR für den ESC zuständig ist. Er hat mit Jurys statt Votings gearbeitet. Er hat Castingshows ausprobiert, mal Songs, mal Künstler gecastet, er hat es mit Stefan Raab und ohne ihn gemacht.
Der ESC 2017 ist der zehnte, für den Thomas Schreiber beim ausrichtenden NDR zuständig ist. Schreiber ist nur ein Jahr kürzer im Amt als Jogi Löw. Der hat in seinen zehn Trainer-Jahren bisher nur eine Weltmeisterschaft gewonnen, aber etliche Titel verpasst. Schreiber trainiert das deutsche Team bei der Europameisterschaft im Singen mit jährlich mehr als 200 Millionen Zuschauern. „Nächstes Jahr wird Deutschland einen besseren Platz belegen, da bin ich mir sicher“, gackerte Manga-Mädchen Jamie-Lee in der Nacht nach dem Desaster in ihrer fröhlichen Ahnungslosigkeit. Einzig sicher ist: Der Schuldige steht heute schon fest.