Bonbon-Pop und plätschernde Balladen
Längst ist der ESC zur perfekten Show geworden. Kann da die Musik mithalten? Unser Autor hat Probe gehört — 43 Mal.
Düsseldorf. Die Wandlung ist verblüffend: Binnen weniger Jahre ist aus dem altbackenen Grand Prix d’Eurovision de la Chanson das hippe Spektakel ESC geworden. Was früher nur versprengte Schlagerfans interessierte, denen die ZDF-Hitparade zu tiefgründig war, ist heute regelrecht gesellschaftsfähig, ein internationales Großereignis. Der Eurovision Song Contest, dank fescher Abkürzung zum Trademark hochgejazzt, ist eine perfekte Show.
Einzig die Musik ist irgendwo zwischen Abba und den dänischen Olsen Brothers stehengeblieben. Hinter modernen Beats und Rockgitarren lässt sich immer noch jene Stilform herausschälen, die den Grand Prix seit Jahrzehnten bestimmt: die Pop-Hymne. Es sind Lieder, die in Erhabenheit, Enthusiasmus und Pathos schwelgen, als wollten sie die Zuhörer durch die bloße Kraft der Töne zum Schweben bringen.
In Wirklichkeit ist die Landung meistens ziemlich hart. 43 Songs hat man durchzustehen, die Vielfalt ist nur auf den ersten Blick groß. Es gibt viel tanzbaren Pop — im Ohr bleibt vor allem Ungarns Kati Wolf — ein bisschen Rock (Türkei, Niederlande), so eine Art Punksong (Moldawien), ein seltsames Hip-Hop-Experiment aus Griechenland, volkstümliche Töne aus Bosnien, Zypern oder Portugal und gefühlte 20 harmlos dahin plätschernde Balladen.
Doch je mehr sich die Teilnehmer mühen, aktuelle Pop-Trends aufzugreifen, umso mehr klingen sie nach dem einen unvergänglichen Paralleluniversum ESC. Sei es die Pseudo-Pink aus Bulgarien, der sakrale Emo-Rock aus Georgien, die kenianische Shakira aus Norwegen oder die Boyband Blue aus Großbritannien: Spätestens mit den immer gleichen Performance-Ritualen driften sie ins ESC-Klischee ab.
Deutlich wird das bei der Schweizerin Anna Rossinelli. Ihre Natürlichkeit, die im Video so gut zum lässigen Surfer-Sound des Songs passt, geht auf der Bühne im Abendkleid total verloren. Immerhin trägt sie rot. Bei den Proben dominieren sonst schwarz und weiß, als hieße das Motto: Bloß nicht auffallen!
Die Gleichförmigkeit der Lieder und Auftritte ist vor allem deswegen so absurd, weil im vergangenen Jahrzehnt oft die gewonnen haben, die aus dem Muster fielen: Freaks wie die Hardrocker Lordi mit ihren Horrormasken, aber auch diejenigen, die sich einfach treu blieben wie unser aller Lena.
Die Kirmes-Attraktionen sind natürlich auch diesmal dabei, et-wa die mitfavorisierten irischen Zwillinge Jedward. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie mit „Lipstick“ einen grandiosen Song im Gepäck haben, der auch in der realen Welt eine Chance hat — in den Charts, in Radiosendern, überall dort, wo nicht ESC ist.
Das gleiche gilt für den Beitrag der dänischen Indierocker A Friend in London. Die Jungs sind übrigens die einzigen Teilnehmer, die bei den Proben wie eine Band klingen. Viele wirken eher wie verunsicherte Superstar-Kandidaten, kurz bevor Dieter Bohlens verbale Faust niedersaust.
Der ungewöhnlichste Beitrag des Abends stammt vom französischen Tenor Amaury Vassili, dessen korsisch gesungene Ballade „Sognu“ wie eine fantastische Mischung aus Ravels Bolero und „Time to Say Goodbye“ klingt. Wir Deutschen dürfen uns in erster Linie auf den finnischen Beitrag freuen. Nur mit Gitarre fordert ein Junge namens Paradise Oskar treuherzig „Save our Planet“. Nicole ist zurück — als 20-jähriger Student aus Helsinki.