Der wissenschaftliche Kopf hinter dem Wahl-O-Mat
Stefan Marschall leitet seit 2003 das Team, das Thesen für den Wahl-O-Mat sucht und die Nutzer im Anschluss auch befragt.
Düsseldorf. Als Stefan Marschall vor zehn Jahren von der Bundeszentrale für politische Bildung gefragt wurde, ob er ihren Wahl-O-Mat wissenschaftlich betreuen möchte, war der noch ein hübsches Instrument, um ein paar jungen Leuten den Gang zur Urne schmackhaft zu machen. „Aber die Dynamik war spektakulär“, sagt Marschall. Dreieinhalb Millionen Menschen immerhin klickten sich schon 2002 zur Bundestagswahl durch die Thesen des Wahl-O-Mat. 2009 waren es aber schon 6,7 Millionen. „Inzwischen ist er legendär — und steht im Duden.“
Wer die Legende noch nicht kennt: Der Wahl-O-Mat ist ein Internet-Tool der Bundeszentrale für politische Bildung, bei dem vor wichtigen Wahlen die Positionen aller Parteien zu wichtigen Themen hinterlegt sind. Der Wähler kann sich durch die Thesen klicken, angeben, ob er zustimmt oder nicht — und erhält dann eine Auswertung, mit welchen Parteien seine Übereinstimmung am größten ist.
27 Mal wurde der Wahl-O-Mat seit der Bundestagswahl 2002 eingesetzt, die Nutzungszahlen steigen stetig. „Ich fand das von Anfang an reizvoll“, berichtet Stefan Marschall, der an der Heinrich-Heine-Uni Politik-Professor ist. „Die Frage war: Wie können wir die Komplexität des politischen Systems herunterbrechen und ein Instrument schaffen, das auch Menschen ohne große Vorbildung nutzen können?“
Deshalb trifft sich Marschall vor einer Wahl — schon jetzt laufen die Planungen für den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl im September, der drei bis vier Wochen vorher an den Start gehen soll — mit einem Team aus Erst- und Zweitwählern bis 26, die mit ihm die Liste wichtiger Thesen erstellen. „Und die schicken wir dann an die Parteien.“ Neben ihrer Position zu den jeweiligen Aussagen wie „Homosexuelle sollen heiraten dürfen“ oder „Es soll ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden“ können diese Begründungen mitschicken — damit sich die Nutzer des Wahl-O-Mat auch tiefer mit den eigenen Ergebnissen auseinandersetzen können.
Und das tun sie offenbar. Bei der Befragung im Anschluss an die Nutzung geben 50 Prozent an, sich jetzt weitergehend politisch informieren zu wollen. Zwei Drittel wollen über die Ergebnisse mit ihrem Umfeld diskutieren. 70 Prozent haben erst durch den Wahl-O-Mat Unterschiede zwischen den Parteien kennengelernt. Und immerhin fünf Prozent geben an, dass sie eigentlich nicht wählen wollten, es jetzt aber wohl doch tun werden.
Eine verbindliche Wahlempfehlung sei das Tool aber bitteschön nicht. „Es sind immer noch nur 38 Thesen“, verdeutlicht Stefan Marschall. Vielleicht sei aber die eine These, die für den jeweiligen Nutzer am allerwichtigsten ist, gar nicht dabei. Auch eine Vorliebe für Kandidaten berücksichtigt der Wahl-O-Mat nicht.
Aber der Internet-Check könne helfen, informiertes Wählen möglich zu machen. „Das Wichtige ist, dass man sich mit Politik überhaupt befasst.“ Deshalb setze der Wahl-O-Mat auf Spiel und Spannung. „Man kann Informationen auch anregend vermitteln“, sagt Marschall.
Dass Anregung bitternötig ist, liegt angesichts der Beteiligung bei mancher Wahl auf der Hand. In den Kanon über eine politikverdrossene Jugend will der Düsseldorfer Forscher aber nicht einfallen. „Die völlige Abkehr von Politik festzustellen, wäre überstürzt.“ Eher gebe es bei Jugendlichen eine Entfremdung von den klassischen politischen Organisationsformen, auch von Parteien. Was zugegebenermaßen in einer Parteiendemokratie ein Problem sei. Aber so muss man eben neue Wege finden, der Jugend zu vermitteln, dass Politik doch noch etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Wege wie den Wahl-O-Mat — zum Beispiel.
Selbst kann der Forscher ihn natürlich nicht nutzen, kennt er doch alle Thesen von vornherein. Auf die Frage, wie er seine Wahlentscheidung denn treffe, lächelt er nur und sagt: „Sehr komplex!“