Germanistin verfolgt Sprichwörter bis in die Antike
Silvia Reuvekamp erforscht, woher die Phrasen stammen, die wir heute alle so dreschen.
Düsseldorf. Das kennt jeder: Stundenlang hat man nichts in den Magen bekommen, sich gefreut auf das Lieblingsrestaurant nach Feierabend oder Kochen mit dem Liebsten zu Hause — und prompt schmeckt das Essen doppelt gut. Hunger ist der beste Koch, sagen wir dann. Was aber wohl kaum jemand weiß: Dieses Sprichwort hat der römische Dichter und Philosoph Horaz noch vor Christi Geburt geprägt. Er allerdings hatte ein bisschen Tiefgründigeres im Sinn als einen feinen Teller Spaghetti: die Frage, was den Menschen moralphilosophisch empfänglich macht; etwa ein asketischer Lebensstil, der intellektuelles Wachstum fördert. „Es geht um geistigen Hunger“, erklärt die Düsseldorfer Forscherin Silvia Reuvekamp.
Die Germanistin untersucht die Herkunft von Sprichwörtern. „Ganz genau kommt man an die Entstehung nicht heran“, sagt sie. Aber an erste literarische Belege. Und tatsächlich geht ein Großteil der heutigen Phrasendrescherei auf antike Schriftsteller zurück — in den Volksmund geflossen meist durch die Bibelübersetzung Luthers. So wie „Hochmut kommt vor dem Fall“ — was in der Heiligen Schrift nicht etwa bedeutet, dass eben mal was schiefgeht. Sondern dass Luzifer sich über göttliche Regeln erhebt und dafür zur Hölle fährt.
„Wir benutzen die Sprichwörter heute oft im Wortsinn. Aber der intellektuelle Hintergrund erschließt sich uns nicht“, erklärt Reuvekamp. „Im Grunde sind sie geronnenes philosophisches Wissen.“ So wie der Satz „Eile mit Weile“. Er war angeblich die Lieblingsfloskel von Kaiser Augustus — natürlich auf Latein: Festina Lente. „Gemeint ist nicht: Chill’ mal“, sagt die Forscherin lächelnd. „Es ging um ganz wichtige politische Entscheidungen, die mit Bedacht getroffen werden sollten. Es bezeichnet eine Herrschertugend.“
Aber: „Gerade weil Sprichwörter meist über ein ganz alltägliches Bild so prägnant sind, halten sie sich gut.“ Wie die Frage, wo denn der Schuh drückt. Sie geht zurück auf den griechischen Gelehrten Plutarch, geboren kurz nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung. Er soll damals seine wunderschöne, fromme, liebe Frau verlassen und größtes Unverständnis bei seinen Freunden erzeugt haben. Da zeigte er ihnen seine glänzenden, feinen Schuhe und sagte ihnen: „Diese Schuhe sind neu und sehen gut aus. Aber wie sie mich drücken, das spüre nur ich.“ Er erklärte mit diesem einfachen Bild, wie wenig die Fassade über tief empfundenes menschliches Leid aussagt, und dass eine Beurteilung von außen falsch sein kann.
Andere Sprichwörter hingegen sind verloren gegangen über die Jahrhunderte. Wie der Spruch: „Das Meer will Feigen“. Der Legende nach soll ein reicher Kaufmann aus Sizilien mit einem Schiff voll beladen mit Feigen im Sturm untergegangen sein. Die wertvolle Fracht war dahin. Später einmal saß der Mann am Strand, schaute auf das gespenstisch ruhige und glatte Meer und sagte: „Ich weiß schon, was du willst: Du willst wieder Feigen!“ Reuvekamp erklärt: „Da geht es um Menschen, die in Versuchung kommen, sich zum wiederholten Mal in Gefahr zu bringen.“ Goethe benutzt diesen Satz noch einmal in einem Brief an einen Freund — dann verschwindet er aus dem Sprachgebrauch.
Eine andere verlorene Phrase ist: „Ein Gefäß riecht immer nach seinem ersten Inhalt“ — entliehen von unglasierten Tonkrügen, aus denen man Essiggeruch nie mehr herausbekam. Der Philosoph Horaz allerdings umschrieb mit diesem Satz einst die Überzeugung, wie wichtig die frühkindlichen Erfahrungen für den Lebensweg des Menschen sind. „Damit wurde in der Antike eine Bildungsdebatte angestoßen, die wir immer noch haben“, sagt Reuvekamp, fasziniert von der Zeitlosigkeit des Spruchs. „Was ich mache, ist nichts anderes, als so etwas wieder auszubuddeln.“ Vor allem aus dicken Bänden mittelalterlicher Sprichwortsammlungen. Mühsam ernährt sich eben das Eichhörnchen — woher dieses Sprichwort wohl stammt ...?