Vergessenes Grünzeug: Als Rucola macht die Rauke Karriere

WZ-Autor Matthias Rech berichtet vom Mietacker in Niederkassel

Düsseldorf. Dies ist ein Text für all’ die Vergessenen. Und glauben Sie mir, es gibt viele Gemüsesorten, die in diesen Herbsttagen ihre angewelkten Blätter traurig in die Sturmböen halten und vielleicht sogar darauf hoffen, dass die nächste Schneckenhorde kommt und ihrem tristen Dasein ein Ende bereitet.

So wie der Weißkohl auf unserem Nachbaracker in Niederkassel. Im Sommer blickten wir noch voller Neid hinüber. Was war das für ein prächtiger Bursche. Mit stramm-grünen Blättern, an denen sich selbst die Kaninchen die Nagezähne hätten ausbeißen können, stand er da und protzte einfach nur sein Weißkohlleben aus sich raus.

Und heute? Wie ein vernachlässigter Jugendlicher hat sich der Kohl unter dem Liebesentzug seiner Gärtner-Eltern zu einem unförmigen Koloss, zu einem Monstrum entwickelt. Selbst die Kaninchen trauen sich nicht mehr, diesen Grobian von einem Weißkohl auch nur anzuknabbern. Er ist ein Vergessener.

Doch immerhin gibt es ihn und seine Sorte noch. Andere Gemüse-Arten hatten da nicht so viel Glück. Sie sind verschwunden. Nicht mehr zu kaufen im Supermarkt, nur selten noch als Samen zu bekommen. Es ist kein Platz mehr für sie in dem guten Dutzend deutschen Einheitsgemüses im Regal.

Die Ursachen dafür sind vielfältig. Manche Sorten wurden schon vor langer Zeit durch bessere, ertragreichere Züchtungen ersetzt. Andere verloren ihren bis dahin guten Ruf im Fressrausch des Wirtschaftswunders, als es sich schickte, die Finger vom Karnickelfutter zu lassen, weil sich ja jetzt jeder seinen Schweinebraten leisten konnte.

Und in den letzten Jahrzehnten war es beliebter, sich dank Globalisierung an Exoten aus Übersee zu laben, statt die alten Kulturpflanzen wieder aufblühen zu lassen. Gemüse- und Salatsorten wie Stielmus, Winterportulak oder Zuckerhut wurden vergessen. Auch die Pastinake, vor der Kartoffelzeit eines der am weitesten verbreiteten Gemüse in Europa. Heute kennen die weiße Rübe nur noch Liebhaber.

Wir haben zumindest diesen Sorten auf dem Mietfeld eine Chance gegeben. Stielmus, das junge Kraut der Mairübe, wächst schnell und schmeckt kleingehackt und gedünstet wie eine Mischung aus Spinat und Grünkohl. Lecker!

Der Winterportulak hat den liebenswürdigen Beinamen Bürzelkraut. Er wächst in kleinen, runden und fleischigen Trieben nur etwa 15 Zentimeter über der Erde und sieht gar nicht aus wie ein Salat.Er ist es aber. Sogar ein sehr Vitamin-C-reicher. In seinen Adern fließt Frostschutzmittel. -20 Grad machen ihm nichts aus, und zum Wachsen braucht er auch nur vier bis acht Grad. Ein genügsamer kleiner Freund des Gärtners, den man warm und kalt zubereiten kann.

Beim Zuckerhut ist das auch so. Er wurde früher Fleischkraut genannt und bescherte den Menschen auch im Winter noch Salatfreuden. Er ist mit dem Chicorée verwandt, ähnelt im Geschmack der Endivie und war damals ein typisches Lagergemüse.

Wenn wir schon von den Vergessenen sprechen, dürfen wir das Comeback des Jahrhunderts natürlich nicht verschweigen. Eines der erfolgreichsten Gewächse der Gemüse-Neuzeit ist: die Rauke. Oh Entschuldigung, ich meinte natürlich den exotisch-italienischen Rucola, der auf keiner Insalata, keiner Pasta und keiner Pizza mehr fehlen darf. Jahrzehntelang — und heute übrigens auch noch — stand die Rauke unbrauchbar an Autobahnstandstreifen in ganz Europa herum. Ihr Gemüseregal war die Leitplanke.

Dann hatte sie die Idee, ging zum Gemüsemeldeamt und beantragte, künftig unter ihrem italienischen Namen firmieren zu dürfen. Antrag angenommen, Karriere gestartet. Das ist in etwa so, als würde sich Lothar Matthäus ab morgen Lotario Matteo nennen und alle Bundesliga-Klubs würden sich um ihn als Trainer reißen.

Ich gebe zu, auch wir hatten auf unserem Acker in dieser Saison Grünzeug, das wir getrost vergessen konnten. Wir haben es mit Zuckermelonen versucht. Zwei ganze Früchte wurden uns geschenkt, die zu 90 Prozent aus Kernen bestanden. Aber das Wetter in diesem Jahr war schließlich auch zum Vergessen.