Wie der Physiker die Windel saugfähiger macht

Hartmut Löwen erforscht weiche Materie. Das sind Windeln, Ketchup, Zahnpasta — aber auch Fischschwärme und Menschenmassen.

Düsseldorf. Theoretische Physik — das klingt nach Urknall, nach fernen Planeten und unfassbar vielen Zahlen. Und all das stimmt auch. Aber theoretische Physik ist noch viel mehr, wie die Forschung von Hartmut Löwen an der Heine-Uni beweist. Er untersucht weiche Materie — was konkret bedeutet, dass er zum Beispiel Windeln besser macht. Weiche Materie, das wirkt schwer technisch. Bedeutet aber eigentlich nur, „etwas, das man mit dem Finger eindrücken kann“, erklärt Forscher Löwen. Zahnpasta etwa, oder Ketchup. Beides ist nicht ohne Grund so, wie es ist: Die Zahnpasta muss auf der Zahnbürste stehen wie ein Feststoff; der Ketchup indes soll schön flüssig aus der Flasche quellen, ohne aber auf dem Teller komplett zu verlaufen. Löwen und andere Physiker an der Uni fragen sich: „Wie kann ich das verstehen, vorhersagen, verändern?“

Das Geheimnis bei dieser Arbeit sind Partikel — ein Tausendstel von einem Millimeter groß —, zumeist umgeben von Wasser. Hartmut Löwen schaut, welche Partikel er braucht und wie diese sich zusammen verhalten, damit seine weiche Materie wird wie gewünscht. In der Windel etwa ist ein Hydrogel. Und wie es funktioniert, dass dieses Feuchtigkeit aufnimmt und nicht wieder rauslässt? „In dem Gel sind vernetzte wasserliebende Polymerketten“, erklärt der Forscher. „Das muss man sich vorstellen wie einen Maschendraht.“ In den Maschen wird Wasser eingeschlossen und kann nicht wieder heraus. „Eine handelsübliche Windel kann bis zu tausend Mal so viel Feuchtigkeit aufnehmen, wie sie selbst wiegt“, so Löwen. „In den letzten Jahren hat es in diesem Bereich eine Menge Grundlagenforschung gegeben.“ Aber nur, weil Zahnpasta schön auf der Bürste bleibt, Ketchup hübsch fließt und die Windeln gut saugen, ist Hartmut Löwen noch lange nicht arbeitslos.

Im Gegenteil. In der theoretischen Physik sind die Herausforderungen schier unendlich. Es geht schließlich nicht wie im Falle der Weltraumforschung „nur“ darum, etwas zu erklären, was schon vorhanden ist. Es geht darum, Neues zu erfinden. Etwa Fenster, die sich automatisch verdunkeln, wenn UV-Licht auf sie trifft. Oder eine zweite Haut, die sich bei einem Aufprall urplötzlich versteifen kann und dadurch kugelsicher ist. Immer dadurch, dass man viele Partikel zusammenbringt, die sich gemeinsam in einer bestimmten Art und Weise verhalten. „Es gibt die Physik des ganz Kleinen — bis in die winzigsten Elementarteilchen hinein —, die Physik des ganz Großen, die sich mit dem Weltall beschäftigt“, erklärt Löwen, „und was wir machen, ist die Physik des ganz Vielen.“

Die Forscher aus Düsseldorf In der Tat forscht man derzeit in den USA an einer zweiten Haut zur Kugelabwehr. Das Prinzip existiert aber schon jetzt beispielsweise in Stoßdämpfern, in denen Partikel durch einen Magneten aktiviert werden, wenn es durch ein Schlagloch geht, und sich dann sofort starr aufstellen, den Stoß so abmildern. Die große Aufgabe, die sich Hartmut Löwen selbst gegeben hat, ist jetzt aber, die Forschung an der weichen Materie, am vielen, auch auf lebende Organismen zu übertragen. Sie um die Komponente „freier Wille“ zu erweitern. So könnte er etwa vorhersagen, wie sich Fischschwärme bewegen — die ja im Prinzip auch aus vielen kleinen Partikeln bestehen. Und auch die Bewegung von Menschenströmen könne man so prognostizieren, sogar eine Katastrophe wie jene bei der Love-Parade vorhersagen, glaubt Löwen.

„Dass es diese Physik gibt, wissen viele gar nicht“, sagt der Experte. Er ist deshalb auch nie böse, wenn er mit Vorurteilen über vermeintliche Nerds konfrontiert ist. Immerhin: „Wir haben wachsende Studentenzahlen.“ Bei der Zielgruppe ist offenbar angekommen, dass es hier nicht nur um Zahlenkolonnen, sondern um intelligente Fenster, zweite Häute und Lebensrettung geht. Das ist auch bitternötig. Denn die theoretische Physik ist preiswert — braucht bloß Tafel, Rechner und Grips. Von Letzterem aber umso mehr. „Auf neue Ideen kommt es bei uns an“, sagt Löwen. Schließlich ist das sein Ziel: aus vielen, kleinen Einzelnen etwas ganz Neues zu machen.