Serie Grenzgänger Zwischen Wuppertal und Remscheid - Ein ganzes Leben als echter Grenzfall
Wuppertal/Remscheid · Helga Hein ist gebürtige Wuppertalerin und nie groß umgezogen. Trotzdem lebt sie heute in Remscheid. Die Grenze ist der Bach vor ihrem Gartentor.
Wie oft am Tag Helga Hein eine Grenze überschreitet, kann sie beim besten Willen nicht zählen. Sie tut es jedesmal, wenn sie vor die Tür geht. Und die 80-Jährige geht viel vor die Tür. Geboren und aufgewachsen ist Helga Hein in Wuppertal, sie ist ein einziges Mal in ihrem Leben umgezogen – ungefähr 30 Meter weit weg von ihrem Elternhaus. Trotzdem wurde sie damit Remscheiderin. Für das Finale unserer Sommerferien-Serie ist sie die perfekte Grenzgängerin.
Unmittelbar vor Helga Heins Gartentor verläuft die Stadtgrenze entlang des kleinen Saalbachs. Sie wohnt in einem freistehenden kleinen Schieferhaus mitten in den tiefen, alten Wäldern des Gelpetals. Auf ein Klingeln prescht zunächst ihr aufgeregt kleffender Dackel an die Pforte. Dann folgt Helga Hein, in der Hand ein paar Scheiben trockenes Brot. Sie ist gerade auf dem Weg zu ihrem höchsteigenen See, um die Karpfen zu füttern. „Na, dann will ich Sie mal reinlassen“, sagt sie mit einem Lächeln. Auf Grenzen scheinen nette Menschen zu leben.
Hinter dem Giebel ihres kleinen, aber bildhübschen Waldhäuschens sieht man die Stämme gewaltiger Nadelbäume in den wolkigen Himmel ragen. Vom Kiesvorplatz aus scheint die Fassade des Restaurants „Haus Zillertal“ – ebenfalls Schiefer – durch Gebüsch und Bäume. „Zillertal ist mein Elternhaus“, erzählt Helga Hein. „Das hat mein Großvater 1904 gebaut.“ Es sei immer schon ein Restaurant gewesen.
Das Haus auf der anderen Grenzseite errichtete dann 1940 ihr Vater. Im Krieg wurde es für die Truppen beschlagnahmt, ein Major wohnte darin. Nach Kriegsende dann „ausgebombte Leute“, so Hein, zwei Familien in dem beengten Häuschen. Sie kam 1960 mit zarten 21 Jahren an die Reihe, um dort ihre Familie zu gründen. „Ich bin übern Bach gezogen“, so klingt die Geschichte aus Helga Heins Mund. „Und ich musste alles ummelden.“ Denn nunmehr war sie Remscheiderin. Zumindest ein bisschen. Den Strom bekommt sie aus der früheren Heimatstadt, auch postalisch gehört sie noch zu Wuppertal.
Helga Heins See – sie nennt ihn Teich, aber er ist zig Meter lang und auch ziemlich breit – liegt suppig-braun zwischen den bewaldeten Hügelhängen. Die Trockenheit des Sommers hat dem Gewässer zugesetzt. „Wo seid ihr denn, meine Lieben?“, ruft die Haus- und Seeherrin und wirft ein paar Brocken Brot ins Wasser. Ein dicker Fischleib, mindestens einen halben Meter lang, ploppt an die Oberfläche und verschwindet mit dem Trockentoast.
35 bis 40 Jahre sind die Karpfen zum Teil wohl alt, schätzt Helga Hein, die Angeln nicht ausstehen kann. Ihre Fische dürfen bei ihr in Rente gehen, seit sie den „Teich“ noch zu D-Mark-Zeiten für einen niedrigeren fünfstelligen Betrag erwarb. Was sie damit macht? „Ja nix!“, sagt sie, als wäre es das normalste der Welt, einen See zu kaufen, den man nicht braucht. Sie habe einfach Sorge gehabt, ansonsten könnte irgendein Angelclub ihn übernehmen und Freunde der Fischerei in Massen durch ihren Vorgarten treiben. Nein danke.
Ganz am Ende des Teichs stehen noch die Betonreste der Halterung, in der früher einmal das Wasserrad für den Hammer hing. Von diesen alten metallverarbeitenden Betrieben gibt es zahlreiche in der Gelpe unterhalb der Ronsdorfer Talsperre. Hier: der Wolfertshammer. „Als Kind bin ich immer nachm Wolferts gucken gegangen, wie er geschmiedet hat“, erinnert sich Helga Hein. Den Hammer gibt es schon seit 1828, mit ihm wurde zunächst Raffinierstahl hergestellt, dann Hobelmesser. Nachdem der jüngste Wolfert, ein Karl, 1955 die Arbeit an dem Hammer aufgab, verfiel dieser rasch. Geblieben ist nur eine Infotafel hinter Helga Heins Zaun und dem Bach. Auf Wuppertaler Gebiet.
Und natürlich der See – oder Teich, wie auch immer. Muss er auch: „Der Teich steht unter Denkmalschutz“, erklärt die Besitzerin. Und das Gebiet drumherum ist strengstes Landschaftsschutzgebiet. Gern hätte sie für ihre Kinder angebaut. Zumal ihr Mann schon mit 44 Jahren im Garten mit einem Herzinfarkt zusammenbrach und starb – der Notarzt hatte ewig bis in das Tal im Wald gebraucht, schildert die Witwe, da war es zu spät gewesen. Aber hier unten darf nichts mehr gebaut werden. Und inzwischen sind ihre Kinder weggezogen, ihr Sohn lebt in Remscheid, ihre Tochter in Bad Honnef, deren insgesamt drei Kinder sind noch weiter verstreut. „Mein ältester Enkel ist schon 33“, berichtet Helga Hein stolz.
Zu Besuch kommen sie oft. Wen wundert’s. Ihre Mutter beziehungsweise Großmutter wohnt in einem wahrgewordenen Märchen. Und sie hat eine gastronomische Ausbildung im Hotel „Zur Post“ genossen, backt gefährlich gute Mandarinen-Schmand-Kuchen, brät für die Enkel Roastbeef und tischt zu ihrem Geburtstag traditionell – auch im vergangenen April zu ihrem 80. – Spargel auf. In ihrer perfekten Idylle ist Helga Hein nur selten allein mit Dackel Paparazzo, genannt, Prazzo, der nach drei Rottweilern den Wachhundjob auf dem abgeschiedenen Gelände übernahm. Die Spaziergänger im Wald – viele kennt Hein aus dem Dackelclub – scheinen förmlich zu riechen, wenn sie Backtag hat. Dann stehen sie reihenweise spontan vor ihrem Gartentor, wie heute die Reporterin.
Mit Pferdedecken-Mantel im Schnee den Berg rauf zur Schule
Und hören vielleicht auch die Geschichten von der Kindheit im Gelpetal. Vielleicht zehn Kinder waren es insgesamt, die jeden Tag zu Fuß den Berg hinauf in die Schule laufen mussten. „Und damals waren die Winter richtig hart“, erinnert sich Helga Hein. Sie hatte einen Mantel aus alten Pferdedecken, der sich richtig schön mit Wasser vollsaugte und schwer wurde. In der Schule durfte sie keine Hosen tragen, also zog sie die für den Aufstieg durch den Schnee unter ihren Rock und entledigte sich ihrer heimlich vor dem Schultor.
Bis auf das Restaurant „Haus Zillertal“, das längst neue Inhaber hat, und die vielen Ausflügler ist es ruhig geworden rund um das kleine Schieferhäuschen. Früher hätten die Kinder immer noch lautstark in Gelpe und Saalbach gespielt, erinnert sich die 80-Jährige. „Aber das machen die ja heute nicht mehr.“ Auch sie sieht die Kinder mit Smartphones und sauberer Kleidung durch den Wald laufen, wenn sie mit Prazzo ihre zwei Runden pro Tag dreht.
Wie es einmal gehen soll, wenn sie für den wöchentlichen Einkauf nicht mehr mit dem Auto in die Stadt fahren kann, weiß Helga Hein noch nicht genau. „Hoffentlich falle ich irgendwann einfach um“, sagt sie ohne jede Rührseligkeit. Bis dahin wird sie für die Waldgesellschaft backen, für ihre Enkel kochen, Karpfen füttern, Prazzos Ball durch den Garten werfen und ihre Blumen pflegen. Wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hat auf diesen wenigen Quadratmetern im Wald zwischen Wuppertal und Remscheid. Ein echter bergischer Grenzfall. Kernig und warmherzig.