Serie Grenzgänger Wanderidylle auf Schiefer und Kalkstein
Wuppertal/Mettmann/Wülfrath. · Der Hahnenfurther Weg verbindet Wuppertal, Mettmann und Wülfrath. Wer dort wohnt, hat die Silhouette der nahen Kalkwerke täglich im Blick.
Am Ortsübergang von Wuppertal zur Kreisstadt Mettmann heißt die B7 Heistersfeld. Wer hier auf den Bus wartet, muss wetterfest ein. „Wir haben kein Häusschen“, moniert Anwohnerin Brigitte Galindo noch eben, bevor sie in Richtung Wuppertal einsteigt. Immerhin: Seit einigen Monaten sind an der Haltestelle vis-à-vis vor dem letzten Wuppertaler Haus zwei Plastikstühle am Papierkorb befestigt. Aber die Konstruktion sieht schwer nach einer Privatinitiative aus.
Die Stadtgrenze bildet an dieser Stelle einen kleinen Buckel gen Norden, ehe sie in den Hahnenfurther Weg einschwenkt – von der etwas unwirtlichen Bundesstraße mit ihrem vielen Schwerlastverkehr hinein in ein sich schrittweise öffnendes bergisches Landschaftspanorama: links des Wegs der sanfte Hügelschwung Mettmanner Felder und Weiden, rechts Wuppertal und geradeaus der südlichste Zipfel von Wülfrath mit dem idyllischen Flüsschen Düssel, dem auch der nahe Wülfrather Ortsteil seinen Namen verdankt.
Und nicht nur er. Als sei es verabredet worden, kommt gerade passenderweise eine Wandergruppe aus Düsseldorf daher. 16 Mitglieder der dortigen Abteilung des Sauerländischen Gebirgsvereins (SGV) haben sich morgens um kurz nach neun mit der S-Bahn von der Landeshauptstadt auf den Weg nach Haan-Gruiten gemacht. Seit zweieinhalb Stunden sind sie jetzt schon unterwegs, die ersten acht von 13 Kilometern bis zum Ziel Wülfrath sind geschafft. Dann winkt die in Wanderkreisen unverzichtbare Einkehr samt Mittagessen, ehe Bus und Bahn die Gruppe über Mettmann wieder nach Hause bringen.
Mittwochs, samstags und sonntags bietet der SGV Touren an, Achim Kunz, der an diesem Vormittag die Leitung übernommen hat, ist einer von 20 Wanderführern. Das klingt viel, aber vor 15 Jahren waren sie noch 45. Auch die Mitgliederzahl der Abteilung ist von 850 um die Jahrtausendwende auf heute noch rund 500 gesunken. Die Nachwuchssorgen der deutschen Vereinslandschaft bleiben halt auch in diesem kommunalen Grenzland nicht verborgen. Aber die gut aufgelegten Wanderer lassen sich davon an diesem sonnigen Vormittag ihre Laune nicht verderben. Ein Gruppenfoto noch und weiter geht’s, vorbei am Haus Hahnenfurther Weg 11, dem letzten Gebäude auf dieser Seite, das noch zu Wuppertal zählt. Der nächste Nachbar ist schon Wülfrather.
In der Nummer 11 lebt Gertrud Schneider, und sie hat schon viele vor ihrer Haustür kommen und gehen sehen, denn sie wohnt hier bereits 83 Jahre – seit ihrer Geburt. „Mein Vater hat das Haus am 30. Mai 1936 gekauft. Das weiß ich so genau, weil das mein Geburtstag war“, erzählt sie. Ihr Bruder war anderthalb Jahre alt. Auf die schöne Landschaft angesprochen, die sie von Kindesbeinen an umgeben hat, sagt sie trocken: „Man ist es gewohnt.“
Dafür kann sie ohne Zögern eine Voraussetzung nennen, um hier zurechtzukommen: „Man muss gut zu Fuß sein.“ Das gilt umso mehr für sie, die nie einen Führerschein hatte, aber eigentlich immer jemanden, der sie im Notfall auch mal mitnehmen konnte. „Die Ruhe, das viele Grün und die netten Nachbarn“ haben Schneider zeitlebens hier gehalten. Heute lebt sie mit ihrem Sohn unter einem Dach. Der Ehemann ist schon vor 19 Jahren gestorben.
Früher, da gehörte das Haus noch zu Wülfrath-Düssel, dann kam die Gebietsreform. Geblieben ist nur die Wülfrather Vorwahl. „Wir wollten nicht Wuppertal werden, aber es hilft ja nichts.“ In Düssel hat sie einst die katholische Volksschule besucht. Eine evangelische gab es auch noch im Dorf, alles schön säuberlich getrennt. Heute muss sich niemand mehr solche Gedanken machen: Nicht mal mehr eine Schule ist im Ort zu finden. Dafür hat Gertrud Schneiders innere Verbindung zu Wülfrath gehalten: Ihr Friseur hat dort sein Geschäft, „mein Sohn fährt“.
Auf der anderen Seite des Hahnenfurther Wegs, also in Mettmann, hat sich Frank Masa einen Wunsch erfüllt. Eigentlich hatte er sein Auskommen als technischer Angestellter der Firma Bayer. „Aber mein Traum war immer, Landwirt zu sein.“ Das rührt noch aus seiner Kindheit am Sportplatz Waldkampfbahn in Wuppertal-Vohwinkel, wo seine Mutter Platzwartin war. Auf dem Hof am nahen Tierheim ging Masa als Kind und Jugendlicher ein und aus. Und als sich 1995 die Gelegenheit bot, nicht weit von der Heimat entfernt einen Hof mit sieben Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche zu erwerben, griff er zu. „Damals war das noch bezahlbar.“
Heute betreibt er dort „Pensionstierhaltung auf landwirtschaftlicher Basis“, wenn man es genau formulieren will. 28 Pensionspferde werden von ihm und seiner Frau versorgt, die Eigentümer kommen aus Wuppertal, dem Kreis Mettmann und Düsseldorf, die Landschaft bietet ideale Bedingungen zum Ausreiten. Masa selbst hat früher auch im Sattel gesessen, aber inzwischen hat er das Reiten für den Beruf aufgegeben. Seit 2003 ist sein Betrieb nicht mehr Neben-, sondern Haupterwerb.
Mit der Lage des Hofs im kommunalen Grenzgebiet habe er nie Probleme gehabt, sagt Masa. Nur die Sache mit der Müllabfuhr ist ein bisschen kompliziert. Die Mettmanner Fahrzeuge sind zu groß, also musste er in Wuppertal Gewerbemüll anmelden, damit die Entsorgung über die Stadt auf der anderen Straßenseite erfolgen kann. „Und für das Freischneiden der Straßenränder fühlt sich hier auch niemand zuständig.“
Hier trifft auch Schiefer auf Kalkstein
Am Hahnenfurther Weg liegen sich aber nicht nur die Städte Wuppertal und Mettmann gegenüber. Hier treffen geologisch auch das Rheinische Schiefergebirge und der Gruiten-Dornaper Massenkalkzug aufeinander. Moritz Iseke kann sich noch gut an das große Erdbeben in der Nacht zum 13. April 1992 erinnern. Damals wohnte er selbst am Hahnenfurther Weg, auf fragilerem Schiefergebiet. „Ich bin in der Nacht fast aus meinem Bett gefallen.“ Bruder Jörg, dessen Haus direkt am nahen Kalksteinbruch Osterholz steht, merkte nichts und schlief friedlich durch.
Jörg und Moritz Iseke sind Geschäftsführer der Kalkwerke H. Oetelshofen. Und man kann nicht über Hahnenfurth schreiben, ohne über Kalk zu schreiben. Nicht nur, weil der Hahnenfurther Weg an einer Stelle unter Gleisen hindurchführt, über die seit Jahrzehnten der Kalk transportiert wird. Nicht nur, weil die Silhouette des nur wenige Hundert Meter entfernten Familienunternehmens den Blick gen Wuppertal prägt. Sondern auch, weil der 119 Jahre alte Betrieb, der von den beiden Brüdern in vierter Generation geführt wird, dem Ort seinen Stempel aufgedrückt hat.
Es gab Zeiten, da wohnten in Hahnenfurth fast nur Mitarbeiter der Kalkbrennerei. Viele der Gebäude sind ehemalige Werkswohnungen. Knapp hundert Menschen finden auch heute noch in dem Betrieb Beschäftigung.
Auch Jörg Iseke ist mit den Spuren der Gebietsreform vertraut. Bis Ende 1974 gehörten Schöller und Hahnenfurth zum Amt Gruiten, ehe sie Wuppertal zugeschlagen wurden, während Gruiten an die Gemeinde Haan fiel. Seither liegt der Kalkbetrieb nur noch am westlichen Ausläufer Wuppertals und nicht mehr so sehr im Fokus eines geschlossenen Gemeindebildes. „Heute läuft die Kreisgrenze mitten durch meinen Garten.“ Es ist halt wie so oft in den kommunalen Grenzregionen: Die Narben der Gebietsreform sind blasser geworden, aber ab und an können sie immer noch schmerzen.
Aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche gedrückt
Wenn man will, kann man das Bild der verschobenen Grenzen auch auf den Kalkstein übertragen. Vor 350 Millionen Jahren, klärt die Oetelshofen-Internetseite auf, war das heutige Europa noch ein gewaltiges Meer südlich des Äquators. Die Kontinentalverschiebung und damit verbundene Auffaltungen pressten die zu Kalkstein verdichteten Überreste von Abermillionen Mikroorganismen dann an die Oberfläche – urzeitliche Basis für die Arbeiten am Kalksteinbruch Osterholz.
25 bis 30 Jahre werden sie noch weitergehen, dann ist an dieser Stelle Schluss mit dem Steinbruchbetrieb. Bis dahin wird das energieintensive Unternehmen noch mit der Klimadiskussion zu kämpfen haben, dem CO2-Emissionshandel und Genehmigungsfragen für eine geplante Haldenerweiterung. Pläne für die Zeit danach liegen schon in der Schublade. „Hier entsteht ein großer See“, sagt Jörg Iseke.
Drehort ist der Steinbruch schon heute immer wieder, ab und an auch Event-Kulisse. Gut möglich, dass er später auch ein beliebtes Naherholungsziel wird. Eine Vorhut ist schon da: Der Uhu hat das Gelände bereits als Lebensraum erobert.