Zwischen Hoffen und Bangen
Die verzweifelte Suche nach dem vermissten Jungen bewegte die ganze Nation. Tausende Hinweise gingen bei der Polizei ein.
Grefrath. Das Urteil am Donnerstag im Mirco-Prozess zieht einen (vorläufigen) Schlussstrich unter einen Fall, der die Menschen in ganz Deutschland und noch darüber hinaus aufwühlte. Ein kleiner, unschuldiger Junge auf dem Nachhauseweg entführt: Das ist der Alptraum aller Eltern. Aber die Polizei setzte alle Hebel in Bewegung, um Mirco zu finden.
Schließlich war er zunächst nur verschwunden. Allerdings wohl entführt. Denn ein Zeuge hatte beobachtet, wie ein Junge am Freitagabend, 3. September 2010, an der Mülhausener Straße in Grefrath in ein Auto gezerrt worden war. Während die Nation vor dem Fernseher saß und das Fußballspiel Deutschland-Belgien guckte.
Am nächsten Morgen wurde an jener Stelle Mircos Fahrrad gefunden. Und hier begannen die unglücklichen Umstände, die der Polizei eine Weile die Suche noch erschwerte. Der Finder des Fahrrades nahm es mit nach Hause, putzte es; erst nachdem er vom verschwundenen Jungen hörte, meldete er sich bei der Polizei.
Ähnlich war es mit Teilen von Mircos Kleidung. Eine Frau hatte sie auf einem Parkplatz gefunden. Weil die Sachen noch in Ordnung waren, hatte sie sie mitgenommen. Erst Tage später hatte sie die Polizei informiert.
Doch die Polizei tat trotz solcher Rückschläge alles, was in ihrer Macht stand, um den Jungen zu finden. Zeitweilig waren 1000 Beamte im Einsatz, um Mirco zu finden. Taucher suchten Flüsse und Seen ab, Hunde erschnüffelten die Fährte des Jungen, Hubschrauber und Drohnen überflogen das Gelände, Hundertschaften durchkämmten die Maisfelder der Region, und sogar Kampfjets der Bundeswehr suchten mit Wärmebildkameras aus der Luft. Die Motivation brachte Chef-Ermittler Ingo Thiel auf den Punkt: „Wir können nicht zulassen, dass in NRW einfach ein Junge verschwindet.“
Die Polizisten der Soko Mirco klingeln im Raum egion an jeder Haustür, suchen nach jedem noch so kleinen Hinweis. Das Suchgebiet haben sie eingegrenzt. Ausschlaggebend dafür: das letzte Sendesignal von Mircos Handy.
Dann gibt es Hoffnung: Eine Zeugin meldet sich, die am Abend von Mircos Verschwinden in der Nähe der Abtei Mariendonk einen lauten Schrei gehört haben will. Erneut wird das Gelände durchkämmt, das Kloster wird durchsucht, ein Schallgutachten erstellt. Alles vergebens.
Die Polizei sammelt Hinweis um Hinweis. Stellt Schautafeln auf an denen Stellen, an denen verdächtige Spuren wie Mircos Fahrrad oder sein Handy gefunden wurden. Fahnden über die Fernsehsendung „XY ungelöst“. Viele Tausend Hinweise aus der Bevölkerung werden es am Ende sein, die die Soko Mirco abzuarbeiten hat.
Mit der Zeit schwindet die Hoffnung, dass Mirco noch lebend gefunden werden kann. Die Arbeit der Polizei wird kritisiert, als Aktionismus bezeichnet. Doch die Ermittler arbeiten akribisch, setzen Mosaiksteine zusammen, entwickeln ein Bild vom Ablauf der Tat, wie sie am 3. September stattgefunden haben muss.
„Ich kriege Dich“, ist die Botschaft, die Thiel aussendet. Auch wenn es keiner ausspricht ist klar: Man sucht einen Mörder und sein Opfer.
Auch wir, die Medien, tun alles, um die Suche der Polizei zu unterstützen. In einer Serie stellen wir sogar die einzelnen Mitglieder der Sonderkommission vor. Damit bleibt das Thema in der Öffentlichkeit, so gelingt es, immer wieder neue Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten.
Als sich am Jahresanfang 2011 Resignation breitzumachen droht, geht alles plötzlich ganz schnell. Das verdächtige Auto taucht auf, soll verkauft werden. Endlich ist sie da, die lang ersehnte heiße Spur. Morgens um 6 Uhr steht die Kripo schließlich am 26. Januar vor der Tür von Olaf H. Der lebt nicht in Grefrath, wie die Polizei vermutet hatte, sondern in Schwalmtal-Ungerath, einer beschaulichen Einfamilienhaus-Siedlung, etwa 20 Kilometer vom Tatort entfernt. H. ist bislang ein unbescholtener Bürger, der zweifache Vater gilt als Familienmensch, sein Hobby ist der Garten. Nur zwei Worte sagt Chefermittler Thiel, als er dem Täter das erste Mal gegenübersteht: „Hab Dich“.
Donnerstag, nach dem Prozess, sagt Thiel: „Ich bin froh und erleichtert, dass es vorbei ist.“ Und über den Täter, den er so lange gesucht hat, sagt der hartnäckige Fahnder: „In den Vernehmungen hatte ich schon den Eindruck, dass es sich um einen feigen Mann handelt, einen Egoisten. Dieser Eindruck hat sich im Gericht verfestigt.“