Bundestagswahl Andrea Nahles ist die neue starke Frau der SPD — und hat sich viel vorgenommen
Berlin. Dass sie gerade in den Fraktionssaal gekommen ist, hört man an dem lauten, glucksenden Lachen. Andrea Nahles schiebt immer eine Welle von Überschwang vor sich her. Neuerdings auch eine Wand von Kameras.
Nach ihrer Wahl zur neuen SPD-Fraktionsvorsitzenden sagt sie allen Ernstes als ersten Satz: „Dies ist ein Tag, der mich sehr glücklich macht“. Dabei liegt die Niederlage der SPD gerade mal 66 Stunden zurück.
Aber die 47jährige Vollblutpolitikerin konnte Gefühle und Mundwerk noch nie gut bremsen. „Dass sie überdreht, das ist die größte Gefahr“, sagt einer der 137 Abgeordneten, der sie eben gewählt hat. Nur 14 waren gegen sie. „Ich komme aus der Vulkaneifel“ sagt sie selbst dazu. Nahles ist Maurerstochter, sie kennt die Lebenswirklichkeit. Und verstellt sich nicht. Ihr Stil würde schief gehen, wenn sie nur emotional wäre — doch sie handelt immer auch strategisch. Und ist immer perfekt vorbereitet. „Frau Nahles, Sie haben jetzt genug gekriegt“, hat Angela Merkel in den Koalitionsverhandlungen 2013 einmal gesagt.
Ihr Temperament ist vielleicht der einzige Makel der Frau, die einst in ihrer Abiturzeitung in Mayen als Berufswunsch angab: „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“. Aus dem „oder“ könnte leicht ein „und“ werden. Nahles ist alleinerziehend mit einer sechsjährigen Tochter. Und seit Mittwoch unangefochten die starke Frau der SPD. Über 90 Prozent Zustimmung, Riesenbeifall nach ihrer Rede und wahre Begeisterung bei etlichen Abgeordneten. „Sie war als Arbeitsministerin die Chefheizerin im Maschinenraum“, sagt Gustav Herzog aus Rheinland-Pfalz und listet Stichworte wie Mindestlohn und Rente auf. Axel Schäfer, bisher Fraktionsvize, sagt: „Selbst Fraktionsmitglieder, die ihr nicht so nahe stehen, sind mit dieser Entscheidung glücklich“. Zwar gibt es noch zwei starke Männer, die auch die nächsten Kanzlerkandidaten sein könnten: Martin Schulz und Olaf Scholz. Aber wenn man Politik in Härtegraden messen würde, hätten beide Nahles kaum etwas entgegenzusetzen.
Sie ist unglaublich zäh. Und unglaublich erfahren. Wenn Nahles im Lauf ihrer jetzt fast 30jährigen politischen Karriere eins gelernt hat, dann: Die Schlachtordnung genau kennen, Truppen sammeln, zur Not im zweiten Anlauf wiederkommen. Lange war sie die Oberstrippenzieherin der Partei-Linken. Zudem hat sie alle denkbaren Jobs in der SPD durchlaufen, Parteivize, Generalsekretärin, Ministerin. Nur ein strategischer Fehler ist ihr passiert, als sie 2005 zu früh und gegen den Willen des damaligen Parteivorsitzenden Franz Müntefering als Generalsekretärin kandidierte und zunächst gewann. Das Ergebnis war, dass Müntefering zurücktrat. Von 2002 bis 2003 war Nahles auch mal nichts Mächtiges, nur Gewerkschaftsangestellte. Aber auch von dort aus hat sie kräftig mitgemischt, gegen die Agenda 2010. Ex-Kanzler Gerhard Schröder kann ein Lied davon singen.
Auch jetzt geht sie es strategisch an. Ihren halben Stab aus dem Arbeitsministerium bringt sie mit in die Fraktion. Das ist auf Dauer geplant. Den noch gefrusteten Abgeordneten hat sie eine tiefgehende Erneuerung der Abläufe versprochen. Nicht mehr von oben herab, sondern auf gleicher Augenhöhe. Das kam an. Freilich schlägt ihr von der Parteirechten auch Misstrauen entgegen. Wohl deshalb willigte sie ein, dass auf deren Verlangen Carsten Schneider erster Parlamentarischer Geschäftsführer wurde. Dass sie jetzt für alle Flügel sprechen muss, ist Nahles klar. Ohnehin hat sie sich in den letzten Jahren mehr zur Mitte hin orientiert.
Noch einen Versprecher leistet sie sich bei ihrem ersten Presseauftritt in der neuen Rolle. „Das ist der Beginn des Erneuerungsprozesses der SPD“, sagt sie. Und fügt erst dann an: „Der SPD-Fraktion“. Keine Frage, dass sie sich zu noch mehr berufen fühlt.