Der Brexit und die Folgen Ralph Rotte zum Exit vom Brexit: Jetzt beginnt die zweite Runde
Für den Politikwissenschaftler an der RWTH Aachen deutet das Zögern der Brexit-Befürworter nach dem Gewinn des Referendums darauf hin, dass der Ausstieg Englands aus der EU noch nicht wirklich ausgemacht ist.
Sollten die EU-Mitgliedsstaaten auf Zeit spielen und keinen Druck auf London ausüben, um die Durchführung des Brexit zu starten?
Ralph Rotte: Das kommt darauf an, wo die Prioritäten liegen. Wenn man eine kleine Chance bewahren will, dass das Vereinigte Königreich vielleicht doch nicht austritt, weil der Regierungschef Art. 50 EUV einfach nicht aktiviert und irgendwann der Druck der Brexit-Befürworter so weit nachlässt, dass sich der politische Zwang zum Austritt entscheidend abschwächt (juristisch gibt es ohnehin keinen), dann sollte man keinen Druck machen. Wenn man aber ein Exempel statuieren will, vor allem um etwaige Nachahmer abzuschrecken, dann sollte man Druck machen.
Oder wäre es aus EU-Sicht klüger, Druck zu machen und die rasche Umsetzung des Volksentscheids zu fordern? Wie Schäuble gesagt hat: „In is in, out is out.“
Ralph Rotte: Wenn man Druck ausübt, muss man sich immer fragen, womit man das tut und ob es den eigenen Zielen dient. Da gibt es gerade im internationalen und europäischen Bereich selten eine reine Prinzipienreiterei. Womit könnte man also Druck ausüben? Wohl in erster Linie durch die Ankündigung, dass das Ergebnis der Austrittsverhandlungen für die Briten umso schlechter sein wird, je länger sie warten. Das aber wiederum setzt voraus, dass es eine gemeinsame harte Haltung aller EU-Staaten gibt, und dass die eigenen wirtschaftlichen Interessen, die im Fall eines Brexit im Vordergrund stehen dürften, nicht zu stark negativ betroffen werden. Beide Voraussetzungen sind aber m.E. nicht gegeben. Man denke nur an die Bedeutung Großbritanniens als Handelspartner und Investitionsstandort für die deutsche Wirtschaft. Großbritannien ist nicht Griechenland, deshalb ist ein Brexit auch anders zu bewerten als ein Grexit. Deshalb muss man sich fragen, inwieweit nicht bei manchem, der sich gerade in den EU-Institutionen für einen schnellen, harten Austritt stark macht, nicht auch eine gewisse gekränkte Eitelkeit mitschwingt.
Halten Sie ein weiteres Referendum für eine Option, die Brexit-Entscheidung zu korrigieren? Wäre das rechtlich überhaupt zulässig?
Ralph Rotte: Rein rechtlich könnte das britische Parlament natürlich ein neues Referendum ansetzen. Das wäre aber zum einen demokratisch zweifelhaft, denn es würde ja letztlich bedeuten, dass man die Leute so lange abstimmen lässt, bis das "Richtige" herauskommt. Zum anderen würde es aber den verfassungssystematischen Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie (letztere ist im britischen System ja eigentlich gar nicht vorgesehen) noch weiter treiben. Schließlich ist ja klar, dass die große Mehrheit der Abgeordneten keinen Brexit will. Für viel wahrscheinlicher halte ich es, dass angesichts der Unsicherheiten versucht wird, früher oder später eine Lösung durch Neuwahlen herbeizuführen. Das bedeutet aber wiederum, dass die Briten Zeit brauchen sich zu sortieren und Druck von außen eher kontraproduktiv wäre.
Wie beurteilen Sie, dass die EU nicht mit einer Stimme spricht. Es gibt jene, die Druck auf London ausüben und jene, die zur Gelassenheit mahnen?
Ralph Rotte: Davon ist bei 27 Mitgliedern außer dem UK auch nicht auszugehen. Das hängt natürlich mit den nationalen und innen- bzw. parteipolitischen Interessen zusammen. Integrationsfreundliche Akteure werden wohl einen schnellen Austritt der Briten befürworten, um der Rest-EU die Möglichkeit zu geben, sich weiter enger zusammenzuschließen. Befürworter einer eher "britischen" Europavorstellung werden eher für Geduld sein, um die Restchance eines Verbleibs Großbritanniens zu bewahren. Das Gleiche gilt für diejenigen, die Angst vor einer Dominanz Deutschlands oder Deutschlands und Frankreichs haben. Regierungen, die sich in ihren Ländern einer ebenfalls starken "Exit"-Bewegung gegenübersehen, werden hin- und hergerissen sein zwischen abschreckendem Druck und besänftigenden Zugeständnissen. Diejenigen, die die ökonomischen Kosten einer Hängepartie fürchten, werden für einen schnellen Brexit sein - sofern sie die Wirtschaftsbeziehungen zum UK nicht nachhaltig beschädigen. Diejenigen, die eher politisch auch an die Bedeutung guter und enger Beziehungen zu Großbritannien als für die EU weiterhin wichtigem diplomatischen oder sicherheitspolitischen Akteur denken (etwa gegenüber Russland), werden zur Mäßigung aufrufen etc. In dieser Komplexität kann man kaum eine klare und harte einheitliche Linie aller EU-Staaten erwarten.
Ist das Thema Brexit aus Ihrer Sicht schon so gut wie durch?
Ralph Rotte: Nein. Aus meiner Sicht beginnt jetzt die zweite Runde, die sich um die Frage dreht, ob das Ergebnis des Brexit-Referendums überhaupt und ggfs. wann umgesetzt wird. Wenn man sieht, wie die zentralen Akteure in Großbritannien angefangen haben, auf Zeit zu spielen(wie David Cameron und Boris Johnson) oder von ihren Extremforderungen zurückrudern (wie Herr Farage in Bezug auf die irgendwann vielleicht eingesparten Beitragsmilliarden), oder wie der Öffentlichkeit langsam klar wird, dass es ein Procedere gibt, das es einzuhalten gilt und Großbritannien bis zum endgültigen Austritt an EU-Recht gebunden bleibt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die Sache noch nicht endgültig ist. Einerseits müssen die Verantwortlichkeiten in Großbritannien neu geregelt werden und sich die politischen Eliten und Parteien über den einzuschlagenden Weg klar werden. Andererseits ist die Situation mit den wirtschaftlichen Kosten der Unsicherheit, der rechtlichen Prinzipienfragen, den Gefahren für den Bestand des Vereinigten Königreichs selbst (Schottland, Nordirland), der Zukunft insbesondere der konservativen Parteien etc. so kompliziert, dass trotz des eindeutigen Ausgangs des Referendums letztlich nichts abschließend geklärt ist. Das dürfte sich hinziehen.