Das Dojo der Karate-Großmeister
In meiner dritten Woche in Okinawa habe ich endlich das Gefühl, dass Schweiß und blaue Flecke sich gelohnt haben. Vor Beginn einer Karateübung sagt mein Lehrer Kaoru: "Wir müssen einen Plan machen." Und dann fängt er an, über einen Treffpunkt in zwei Tagen zu sprechen und wie viel Zeit ich einplanen müsste.
"Kaoru", unterbreche ich verwirrt, "was genau hast du denn vor?" Und dann verkündet er, dass er mit mir ins Honbu Dojo fahren will, das Haupt-Dojo unserer Karatefamilie, in dem unser vor fünf Jahren verstorbener Großmeister Miyahira Sensei gelehrt hat. Ich soll dort Kata üben und er wolle mich dabei filmen, sagt Kaoru und lächelt. Er weiß, dass er mir keine größere Belohnung für meine Mühen geben könnte.
Die Linie der Großmeister ist wichtig im traditionellen Okinawa-Karate. Denn aufgeschrieben, publiziert und auf Youtube vorgetanzt wird erst seit kurzer Zeit. Davor hat ein Meister sein Wissen exklusiv hinter verschlossenen Türen im Dojo an seine Schüler weitergegeben. Jede Bewegung also, die ich in der Affenhitze dieser japanischen Insel übe, hat genau so auch Miyahira Sensei geübt, vor ihm sein Lehrer Chibana Sensei und so weiter Natürlich habe ich das alles auch schon in Deutschland gewusst, die Porträts unserer Großmeister hängen an der Wand in meinem Düsseldorfer Dojo. Aber hier in Okinawa wird diese lange und reiche Tradition für mich zum ersten Mal so richtig lebendig.
Entsprechend aufgeregt bin ich über die große Ehre, im Honbu Dojo zu üben. Obwohl ich am Tag zuvor schon mehrere Stunden in Kaorus kleinem Dojo trainiert habe, übe ich abends noch am Strand im Sonnenuntergang die fünf Kata, die mein Lehrer filmen will. Ganz Naha City muss denken, die Europäer spinnen, denn noch auf dem Heimweg gehe ich mit den Armen Bewegungsabfolgen durch, schlage laufend vor mich hin. Und am Morgen, bevor Kaoru mich abholt, stehe ich schon wieder in einem kleinen Park um die Ecke von meinem Hostel und übe.
Das Honbu Dojo ist kein schickes, modernes Studio. Es ist Holzboden und Wände voller Fotos von Miyahira Sensei mit berühmten Karate-Großmeistern aus aller Welt - auch meinen deutschen Lehrer Joachim Laupp entdecke ich. Außerdem Regale mit Büchern, alten Schriften und einfach losen Blättern über Kampfkunst und den Geist dahinter.
Natürlich hat es auch keine Air-Condition. Nicht einmal einen Standventilator. Also läuft mir schon nach dem Aufwärmen der Schweiß in Rinnsalen die Stirn hinunter. Aber das Gefühl, direkt unter den Augen des Großmeisters zu üben, das Gelernte vorzuführen, stachelt mich an. Ich mache nicht einen einzigen Fehler bei meinen Kata und fülle jede einzelne Technik mit aller Kraft, die ich in der Hitze habe. Als ich fertig und zufrieden bin, sagt Kaoru: "Und jetzt noch Tetsu Sho!" Natürlich muss er noch eine Überraschung für mich bereithalten. Tetsu Sho ist die Kata, die Miyahira Sensei selbst entwickelt hat - und die ich erst vor zwei Tagen gelernt habe. Schwupps, ist der Adrenalinspiegel wieder am Anschlag. Aber ich meistere auch diese Herausforderung. Und verlasse das Honbu Dojo schließlich mit einem Lächeln auf dem tropfnassen Gesicht.
Kaoru lädt mich noch auf einen Kaffee ein, und als wir so auf dem Bambusboden im Teehaus hocken, sagt er: "Weißt du, ich habe Miyahira Sensei im Dojo fragen hören, was das europäische Mädchen hier macht. Und ich habe ihm in Gedanken erklärt, dass sie eine Schülerin von Joachim aus Deutschland ist, der auch vor langer Zeit hier angefangen hat zu lernen. Ich glaube, das hat ihm sehr gefallen ..." Das hoffe ich. Mir auch.