Doping-Experte hält Rio-Offensive des IOC für „Show“
Lausanne (dpa) - Für den Nürnberger Pharmakologen Fritz Sörgel ist der vom Internationalen Olympischen Komitee für die Rio-Spiele vorgelegte Anti-Doping-Maßnahmenkatalog nur Bestätigung einer Feigenblatt-Politik.
„Das ist Aktionismus und eine Show wie vor jeden Olympischen Spielen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Das Publikum muss eingestimmt werden. So würde es jede Firma machen, die in Misskredit geraten ist.“
Das IOC mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach will hingegen den Eindruck vermitteln, nach den unfassbaren Skandalen in Russland wirklich ernst zu machen - und trat die Flucht nach vorn an. Das in Lausanne tagende Exekutivkomitee deklarierte den Kampf gegen Doping zur „Top-Priorität“ und versprach, mit Entschlossenheit „die sauberen Athleten bei den Olympischen Spielen in Rio zu schützen“.
Zu den am Mittwochabend angekündigten Maßnahmen gehört, dass man vor der Eröffnungsfeier am 5. August die Fälle der bei Nachtests von Peking 2008 und London 2012 insgesamt 55 positiv getesteten Athleten abschließt und gegebenenfalls Sanktionen ausspricht. Eine Disziplinarkommission ist gebildet. Gezielt sollen auch noch Proben von Medaillengewinnern der beiden Sommerspiele neu analysiert werden.
Zum 21. Juni hat das IOC zudem zu einem Treffen geladen, um das Vorgehen unter den internationalen Sportverbänden „zu koordinieren und harmonisieren“ sowie zu entscheiden, welche Athleten zu den Rio-Spielen zugelassen werden. „Dabei geht es auch um die schwierige Entscheidung zwischen kollektiver Verantwortung und individueller Gerechtigkeit“. Sprich: Kann man gegen Russland nach allem, was bewiesen, enthüllt wurde und noch ermittelt wird, einen Olympia-Bann verhängen oder darf man nur überführte einzelne Athleten sperren?
Die große Frage ist: Wollen das IOC und der Weltverband IAAF, der am 17. Juni nach dem nachgewiesenen systematischen Dopings in der russischen Leichtathletik über ein Olympia-Aus entscheidet, das überhaupt? „Die wahrscheinliche Lösung wird sein, dass gesagt wird, wir haben doch alles getan, damit saubere Russen in Rio antreten können“, sagte Sörgel. „Dabei ist doch schon genug passiert.“
Das IOC hat das Budget für vorolympische Zielkontrollen von 250 000 auf 500 000 Dollar verdoppelt. Explizit sind dabei Athleten aus Kenia, Mexiko und Russland aufgeführt, die man clever testen will. So etwas wurde vorher nie publik gemacht. In den drei Ländern gibt es kein anerkannt funktionierendes Anti-Doping-Testprogramm.
Auch die IAAF hat viel getan, um den Russen die Tür zu Olympia einen Spalt offen zu halten. Zwei unabhängige Experten, Peter Nicholson und Ieva Lukosiute-Stanikuniene, wurden nach Russland entsandt, um den Fortgang der Aufräumarbeit zu überwachen. Außerdem hat die britische Anti-Doping-Agentur das Testprogramm übernommen. Ist damit alles auf einem guten Weg? „Ich kann mir nicht vorstellen, dass nach so kurzer Zeit die Russlands Doping-Strukturen nicht mehr wirken“, so Sörgel.
Während die IAAF auf Grundlage eines Ermittlungsberichtes der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA mit Beweisen und Fakten urteilen kann, ob Russland weiter suspendiert bleibt oder nicht, muss das IOC einen moralisch-ethischen, aber rechtlich höchst diffizilen Spruch fällen. Eine Klagewelle von sauberen oder nicht positiv getesteten russischen Athleten könnte bei einem kollektiven Bann drohen.
Sollte sich bewahrheiten, dass Gastgeber Russland bei den Winterspielen in Sotschi tatsächlich positive Proben eigener Sportler mit krimineller Hilfe des Geheimdienstes im Kontrolllabor ausgetauscht hat, gerät das IOC in Zugzwang. Bis zum 15. Juli will die WADA die Untersuchungen zu den Anschuldigungen abschließen. „Das IOC wird nicht zögern, jeden, der Dopingmittel nutzt oder verteilt, zu bestrafen, seien es Funktionäre, Trainer oder andere Angehörige im Umfeld eines Athleten“, hieß es in der IOC-Erklärung. Aber auch ein ganzes Land?