Greipel: Allein unter Briten

Der Rostocker ist heute Kandidat für eine Medaille. Aber sein vermeintlicher Gegner Mark Cavendish hat die besseren Helfer.

London. Der ehemalige DDR-Sportreporter Heinz Florian Oertel empfahl beim olympischen Marathonsieg von Waldemar Cierpinski 1980 in Moskau: „Liebe junge Väter, haben Sie Mut, nennen Sie Ihre Neuankömmlinge Waldemar.“ Bernd Greipel in Rostock fühlte sich nicht animiert. Er gab seinem Sohn zwei Jahre später den Namen André, und der will Samstag die erste Medaille für Deutschland gewinnen.

Der Kurs des Straßenrennens gilt als ideal für Sprinter. Für Sprinter wie Greipel, der bei der Tour de France gerade drei Etappen gewonnen hat. Doch der 30-Jährige trifft auf mächtige, wenn nicht übermächtige Gegner. Favorit ist der Brite Mark Cavendish, der von einem vierköpfigen Team unterstützt wird, das Tour-Triumphator Bradley Wiggins anführt. „Wiggo“, der Londons Bürgermeister Boris Johnson gerade in bester Oertel-Manier zu dem Spruch „Die Kindergärten werden bald voll sein mit Kindern, die auf den Namen Bradley hören“ veranlasst hat, kündigte bereits an: „Cavendish fuhr für mich bei der Tour, jetzt fahren wir alle für ihn.“

Der 32-Jährige kann sich so viel vornehme Zurückhaltung leisten. Er ist dreimaliger Olympiasieger auf der Bahn und Top-Favorit im Zeitfahren am 1. August. Die englischen Zeitungen konzentrierten sich Freitag folgerichtig auf den Mann, der 2005 seine ersten Straßenrennen für das kleine deutsche Team Sparkasse bestritt und nun das erste Gold für die Olympia-Gastgeber holen soll. „Wenn es zu einem Sprint kommt, werde ich gewinnen“, tönte der amtierende Weltmeister Cavendish im Boulevardblatt „Sun“, „dann wird mich in meinem größten Rennen keiner schlagen.“

Wiggins ist von den Qualitäten seines Kumpels, mit dem er 2008 Weltmeister im Zweiermannschaftsfahren wurde, ebenfalls überzeugt: „Wenn Mark auf den letzten zwei Kilometern in der Spitzengruppe ist, gewinnt er von zehn Sprints neun.“ Cavendish, wie Greipel bei der am vergangenen Sonntag beendeten 99. Tour de France dreifacher Etappensieger, genießt in der Szene den Ruf eines Exzentrikers.

Das ist in der Ellenbogen-Gesellschaft der Sprinter nicht unbedingt ein Nachteil. Wer die Zielgerade mit etwa 80 km/h hinunter donnert und sich dabei seine Konkurrenten vom Leib halten muss, der darf kein Sozialromantiker sein. Der 27-Jährige ist über diesen Verdacht erhaben. 2009, als er mit sechs Tagessiegen eine Tour-Bestmarke aufstellte, erhielt er in Paris nur deshalb das Grüne Trikot, weil er auf einer Etappe wegen gefährlicher Fahrweise zurückgestuft wurde.

Andre Greipel gilt vergleichsweise als pflegeleichter Typ und wird schon mal als „ruhiger Geselle von der Waterkant“ beschrieben. Gleichwohl adelt ihn der ehemalige Supersprinter Sean Kelly als „Monster an Kraft“. Doch das angebliche Monster hat heute vielleicht ein Problem: Seine vier Helfer besitzen nicht die Klasse der Briten. Auf der 250 Kilometer langen Strecke mit den neunmal zu überwindenden Anstiegen im Südwesten Londons kann Greipel sich immerhin auf Marcel Sieberg verlassen, seinen Anfahrer im Team Lotto-Belisol, für dessen Nominierung er sich stark gemacht hatte: „Ich habe Marcel viele Siege zu verdanken und weiß, dass ich immer auf ihn zählen kann.“

Dennoch hat Greipel im Zentralorgan des deutschen Boulevards seinen Verband für die Aufstellung („So verschenken wir gute Goldchancen“) gerügt. Er bezweifelte, dass sich Zeitfahrweltmeister Tony Martin vier Tage vor dessen Rennen für ihn als Helfer verausgaben wird.Während aus Greipels Umfeld gestreut wurde, der Rostocker habe gar nicht mit der „Bild-Zeitung“ gesprochen, ruderte der Radprofi Freitag zurück: „Dass Tony vielleicht nicht bis zum Ende fährt, ist doch verständlich.“

Das Ende befindet sich auf Londons Prachtstraße „The Mall“. Wenn Königin Elisabeth II. möchte, kann sie das Finale aus dem Buckingham Palace verfolgen. Dann droht eine bittere Erkenntnis: Womöglich werden die nächsten kleinen Deutschen wirklich nicht auf den Namen Andre getauft werden.